Der Pfarrer war auch der erste Mensch, der sie nach dem Vater des Kindes, nach dem gewissenlosen Verführer , wie er ihn nannte, fragte. Lotte erblasste, sah angestrengt vor sich hin, sie forschte in dem Dunkel ihrer Erinnerung, doch nur ihres Kindes winziges, lockig behaartes Hinterhaupt tauchte vor ihr auf, und schließlich zuckte sie resigniert die Schultern und sagte leise: „Ich kann Ihnen da gar nichts sagen.“
„Das ist außerordentlich bedauerlich“, bemerkte der Pfarrer, der trotz aller Strenge und allen Abscheues ihr doch gern geholfen, gern eine Ehe gestiftet und das Kind legitimiert gesehen hätte.
Als Lotte ihr Portmonee unter dem Mantel hervorzog und das für die Taufe erforderliche Geld gleich auf den Tisch niederlegen wollte, war der Pfarrer von der in gewisser Weise unschuldigen und doch dem Notwendigen gegenüber so festen Menschlichkeit dieser jungen Frau gerührt. Er bot ihr an, die Gutsherrschaft von allem zu unterrichten, denn lange könne ja das Dasein des kleinen Wesens doch nicht mehr verborgen bleiben. Lotte war ihm dankbar, doch seine Mission stieß auf Schwierigkeiten.
Die Schwiegertochter von Lottes Patienten, die junge Baronin Elfriede, die eigentliche Herrin des Hauses und selbst kinderlos, verlangte trotz aller Vorstellungen und Ermahnungen des Pfarrers sofortigen Hinauswurf der Betrügerin und Dirne , wie sie Lotte benannte. Und wenn auch ihre Wut und ihr Verlangen schließlich an dem unerschütterlichen Widerstand des alten Barons abprallten, dem alles gleichgültig war bis auf die Wartung und Begleitung der ruhigen vernünftigerweise nicht schwätzenden Schwester, an die er sich so sehr gewöhnt hatte, so musste sich Lotte in Zukunft doch vorsehen, von der Hausfrau auf einem Korridor des Hauses oder in einem Zimmer allein angetroffen zu werden, um sich nicht mit ziemlich ungewählten Schimpfworten überschütten lassen zu müssen. Aber es machte Lotte auch kaum etwas aus, wenn sie solche einmal anhören musste. – „Wenn ich nur die Stellung behalte“, dachte sie, und voller Überlegenheit der glücklichen über die unfruchtbare Mutter dachte sie noch geringschätzig hinzu, „soll die nur immer feste keifen!“ – Den Eltern hatte Lotte nichts geschrieben, und keine noch so dringende Frage der Mutter, was sie denn mit dem Geld mache, von dem sie gar nichts mehr nach Hause schicke, konnte eine Antwort aus ihr herauslocken.
Lotte hatte nur eine Sorge: Das Kind verkam unter der nachlässigen Pflege der alten Bäuerin. Stets lag es, wenn Lotte angehetzt kam, in schmutzigen Windeln, die Haut war wund und durchgerieben, und um das vor Schmerzen schreiende Kind zu beruhigen, stopfte ihm die Alte, statt es trocken zu legen, unaufhörlich in Zucker getauchte Lutscher in den Mund, von denen es zuletzt einen starken Magen- und Darmkatarrh bekam. Vergebens versuchte Lotte gegen das alles anzukämpfen. Sie wusch die Windeln, badete das Kind und pflegte seine Haut, so oft sie nur konnte, sie blieb die Nächte bei ihm, um ihm den Haferschleim einzuflößen, den das mitleidige Wirtschaftsfräulein auf dem Gut ihr kochte und der den Katarrh heilen sollte. Lotte musste dabei nachts mit dem Kind auf der Treppe hocken, denn die Alte wollte in ihrer einzigen Stube Ruhe haben und schlafen. Das Kind nahm ab statt zu, und wurde immer jämmerlicher. Lotte bedrängte die Hebamme mit Bitten, den Kleinen doch wieder zu sich zu nehmen oder wenigstens eine andere Pflegestelle zu besorgen, konnte aber keines von beiden erreichen; alles war mit Erntearbeiten beschäftigt, und für ein fremdes, krankes Kind war nirgends Interesse. In ihrer Verzweiflung ging Lotte sogar ihren Patienten an, ob sie nicht das Kind oben in ihrem Stübchen haben könne, nur so lange, bis es wieder gesund sei. Der alte Herr lächelte liebenswürdig, tätschelte Lottes Hand, meinte aber, er schätze Szenen mit Baronin Elfriede allzuwenig und sei nicht mehr jung genug, um es mit weiblicher Borniertheit aufzunehmen – er konnte sich aber auch nicht enthalten, entsprechend seiner Lebensauffassung die zweifelnde Frage an Lotte zu stellen, ob sich denn überhaupt im Allgemeinen die rührenden Anstrengungen der Mütter lohnten?
Über die Antwort auf diese Frage dachte Lotte keine Sekunde nach, sondern sie tat etwas Feiges und Mutiges zugleich: Sie ließ sich unter dem Vorwand, das Kind in einem Heim unterbringen zu wollen, von dem alten Baron, der aus egoistischen Gründen mit diesem Plan einverstanden war, ihr Gehalt für den kommenden Monat vorausbezahlen – denn immer hatte sie die Vorstellung, dass sie vor allem mit Geld versehen sein müsse –, dann packte sie nur das Nötigste in einen kleinen Koffer zusammen, verließ mit ihm nachts das Haus, hockte sich bei der Bäuerin wie gewöhnlich mit ihrem Kind auf die Treppe, schlich sich aber nach einiger Zeit auch hier davon. Sie wanderte mit Kind und Köfferchen über eine Stunde weit in der mondlosen Dunkelheit bis zur nächstgelegenen Bahnstation, und nach weiteren Stunden des Wartens bestieg sie im Morgendämmer den in Frage kommenden Zug und fuhr heim.
Es war ein heißer Sonntagnachmittag im August, als Lotte, müde, hungrig und erschöpft, mit ihrer Last im Arm, an der elterlichen Wohnungstür klingelte. Die Mutter öffnete. So streng und verschlossen sie auch war, leuchtete ihr Auge doch auf, als sie ihr einziges Kind so unerwartet vor sich erblickte. Sie ließ Lotte eintreten, schalt aber sogleich währenddem, warum Lotte auf ihre Briefe nicht ausführlich geantwortet habe, und wie es denn nun eigentlich mit dem Gelde sei, ob sie es sich etwa um versprochener höherer Zinsen halber habe abschwindeln lassen – das Reellste sei und bleibe doch die Sparkasse, darin könne sie schon der Mutter vertrauen, auch sei es nicht christlich, zu hohem Gewinn nachzustreben. Da Lotte auf nichts antwortete, fragte die Mutter, was denn mit dem Säugling wäre, wem er gehöre und ob Lotte ihn wohl in eine Klinik bringen solle.
Sie waren indessen in die Wohnküche der kleinen Wohnung eingetreten. Lotte setzte sich aber nicht auf die Aufforderung der Mutter hin, blieb mit wankenden Knien stehen und sagte leise:
„Nein, das ist mein Hermann!“
Das Gesicht der Mutter erstarrte für eine Sekunde in bösem Schrecken, dann wollte es zu dem gewöhnlichen Ausdruck zurückfinden, als die Mutter in der üblichen Tadelsweise sagte, seit wann denn in ihrem Heim solche dummen Witze gemacht würden. – Zugleich aber fand sie mit dem Instinkt der Frau Lottes voller gewordene Gestalt, ihr erblühtes und regsameres Gesicht verdächtig, und, als wolle sie etwas Schlimmes im letzten Augenblicke noch verhüten, trat sie jäh auf die Tochter zu, riss ihr das Kind aus den Armen und legte es auf das Kissen in ihrem Lehnstuhl am Fenster. – Der Vater, der auf dem Sofa noch seinen Sonntagnachmittagsschlaf gehalten hatte, kam langsam zu sich, erhob sich, und während allmählich Freude sein weitzügiges, etwas unregsames Gesicht, das dem der Tochter ähnelte, überzog, sagte er schwerfällig: „Na, Lottchen, mein Kind, das ist aber eine Überraschung!“
Von der klugen, harten Mutter floh Lotte zu ihrem Vater hin, beugte sich zu ihm nieder, drückte ihre Wange gegen seinen stacheligen Bart, ließ sich von ihm den Rücken zärtlich klopfen, und schließlich schmiegte sie sich ganz fest gegen seine Schulter, zitterte und sagte, aufgerührt, schluchzend, halb angstvoll flehend, halb hingerissen von ihrem Glück, ihr Bekenntnis: „Vater, das ist mein kleiner Hermann!“
Der Vater rührte sich nicht, so schnell konnte er nicht begreifen. Die Mutter aber fragte nach nichts mehr. Von hinten riss sie die Tochter hoch, drehte sie mit einem Schwung zu sich herum und schlug sie in das Gesicht. So rasend schnell fielen die Schläge, dass die ohnedies erschöpfte Lotte nicht einmal dazu kam, sich mit den Händen zu schützen. Ihre Schwesternhaube fiel vom Kopfe, ihre braunen Flechten lösten sich auf, aus der Nase sickerte Blut. Die Mutter schlug, bis die Tochter gegen den Küchenschrank taumelte.
Читать дальше