Ahnungslos trug Lotte ihr Geschick: Dass niemand teilnahm an dem Glück ihrer Mutterschaft, dass kein Mann dankbar ihren vom Gebären müden Leib umfing, kein Gatte ihr bleiches, hold verwandeltes und belebtes Gesicht betrachtete, kein Vaterblick ihr Neugeborenes umfasste. Sie musste sich von der Hebamme auf- und vorwärtstreiben lassen und wanderte nach ihrem Befehl, um zu üben , zweimal die Stube auf und ab – daraufhin wurde ihr aber so schwach, dass sie sich auf den nächsten Stuhl niedersetzen musste.
„Geben Sie noch eine Mark, dann bringt mein Mann Sie nach Hause“, schlug die Hebamme vor. Lotte gab. Die Frau trat an das Bett des tief schlafenden Mannes, rüttelte ihn an den Schultern, riss an seinen Ohren, bis er mit einem Fluch aufsprang. Er blickte in der grauen Morgendämmerung wild und wütend um sich, als er aber die halb ohnmächtige, in sich zusammengesunkene Gestalt Lottes sah und ihm seine Frau außerdem noch das Markstück vor die noch verschlafenen Augen hielt, um es dann allerdings schleunigst in ihre Schürzentasche verschwinden zu lassen – da besänftigte sich der Zorn des Mannes. Während er sich nun in aller Hast ankleidete, legte die Hebamme das Kind noch einmal an die Brust der Mutter, rüttelte und schüttelte es aus seinem Schlaf auf, bis endlich auch der winzige Mund zu saugen begann; doch nach wenigen Zügen war das kleine Wesen wieder in Schlaf versunken.
Für die Mutter aber war es, als hätte dieses kurze Saugen ihr statt Kraft genommen neue Kraft eingegeben, denn als man das Kind ihr wieder fortnahm, stand sie auf und ging sicher und eilig zur Tür. Sie war plötzlich aufgeregt und sehr besorgt, ungesehen vor dem Morgen nach Hause zu kommen. Die Hebamme steckte ihr schnell noch etwas von dem zusammenziehenden Tee zu, auch Lebensöl , das in Tropfen genommen werden sollte gegen die Schwäche.
In dem Augenblick, als die Mutter über die Schwelle der Tür schritt, schrie das Kind mit jammervollen Quaklauten aus seinem Schlafe auf, und dieser Schrei durchfuhr Lotte bis ins Tiefste: Ihr Herz wurde wie von innen geschlagen, ihr Blut in den Adern wurde getroffen, bis in die Fingerspitzen riss es an ihren Nerven. Alles war Schmerz und Glück zugleich. Glück war es durch die tiefe Gewissheit, dass dieser wimmernde Schrei in der ganzen Welt nur ihr gelten konnte, und Schmerz war es, mit diesem Schrei im Ohr davoneilen zu müssen, als fliehe sie ihn, während doch alles in ihr drängte und dazu trieb, diesen süßen Laut noch mehr und länger in sich aufzunehmen, so lange, bis er nur noch in ihr klang, ihr Kind aber ruhig war, Schutz und Wärme und Nahrung in ihren Armen hatte.
Sie wurde hinausgeschoben vor das Haus. Da stand im Dämmern der Mann, einen niedrigen, einräderigen, notdürftig mit einer zusammengelegten Decke gepolsterten Schubkarren in den kräftigen Fäusten. Gehorsam nahm Lotte darauf Platz, und sofort setzte sich der Mann mit ihr in Trab, durchrannte, keuchend mit offenem Munde, in einem Lauf die Strecke vom Dorf bis zum Gutshofe, während Lotte vornübergebeugt dahockte und die Hände fest gegen ihren Leib presste, um ihn vor den Stößen des Karrens zu schützen. Es war ein Wunder und Lottes Glück, dass sie in dieser Sommerfrühe ungesehen an ihrem Ziel anlangten. Überall krähten schon kräftig die Hähne, der Mond und die Sterne, die der Geburt geleuchtet hatten, waren längst hinabgegangen, und kaum war es Lotte gelungen, ganz verwirrt von dem Toben des Hundes an seiner Kette, und mit Hilfe des Mannes, dessen Atem vor Anstrengung pfiff und röchelte, wieder durch das Waschküchenfenster ins Haus zu kommen, und kaum war sie in ihrem Stübchen auf ihr Bett gesunken, als alles um sie her erwachte, und die Arbeit auf dem Hofe begann. Während sie einschlief, quälte sie noch die aufspringende Befürchtung, ob ihr netter alter Herr in der Nacht nicht etwa nach ihr verlangt habe, obwohl das bis jetzt niemals vorgekommen war.
Sie schlief tief, bis man sie mit der Nachricht weckte, der Herr Baron rufe schon lange nach seinem Bad. Es war schwer für Lotte, ihre Gedanken zu ordnen, sich mit Geistesgegenwart zu wappnen und ihren schmerzenden, ruhesüchtigen Körper in Bewegung zu bringen. Aber schließlich gelang ihr alles. Da es ein Regentag war, brauchte sie ihren Patienten nur die kleine Tour spazieren zu führen, sie machte es ihm dann in seinem Lehnstuhl bequem, las ihm die Zeitung vor, worüber der alte Philosoph, die täglichen Dummheiten der Menschen gelangweilt ablehnend, bald eingeschlafen war. Sowie sie dies gewahr geworden, schlüpfte Lotte in ihr Zimmer, und in einer emaillenen tiefen Seifenschale kochte sie sich über dem Zylinder der Petroleumlampe etwas von dem Tee, den ihr die Hebamme mitgegeben hatte, denn er tat ihr gut gegen die ziehenden Schmerzen im Leib und gegen das Stechen im Kreuz.
Um die Mittagszeit, als sie ihre Freistunden hatte, lief sie, nun schon wieder im Besitz ihrer vollen Beweglichkeit, wenn auch nicht Kraft, ins Dorf. Sie sah ihr Kind wieder, als hätte sie bis jetzt nur von ihm geträumt und sähe es nun zum ersten Mal in der Wirklichkeit. Sie riss es an die Brust, die sich eben noch hob und senkte von dem eiligen Lauf, aber wie mit einem Schlag in wollüstige Ruhe und Unbeweglichkeit gebannt war, als der Mund des Säuglings sie berührte. Das Kind war nun in Hemdchen und Jäckchen gekleidet, sauber, wenn auch ärmlich und schmucklos eingebündelt. Zehn Tage lang wollte es die Hebamme noch bei sich behalten, da sie sonst nicht viel zu tun hatte, dann aber sollte es an eine andere Pflegestatt kommen.
Diese zehn Tage waren eine glückliche Zeit für Lotte. Sie brachte es fertig, teils heimlich, teils unter allen erdenklichen Vorwänden, vom frühen, noch dämmernden Morgen an bis zur dunklen Abendstunde gerechnet, dreimal, oft viermal an jedem Tag ins Dorf zu eilen, um das Kind zu sehen und zu nähren. In der Zwischenzeit flößte ihm die Hebamme Zuckerwasser und Mehlsuppe ein, und der kleine Körper rundete sich schnell, wurde glatt und rosig. Manchmal hielt das Kind beim Saugen die Augen schon geöffnet und sah mit unbewegtem und unergründlichem Blick die Mutter an, so dass sie erschauerte.
Am vierten Tag schickte die Hebamme Lotte aus, um das Kind von Amts wegen anzumelden. Der junge Gendarmeriebeamte wurde bei der Personalaufnahme rot für sie, Lotte dagegen war sich ihrer für diese Zeit und Gegend, besonders auch für ihren Stand sehr peinlichen Situation gar nicht bewusst, wurde nur verlegen und hilflos, als sie nach dem Namen gefragt wurde, den sie dem Kind geben wolle. Schließlich stotterte sie den Namen ihres Vaters hervor, und der Beamte trug ein: Hermann Schuhmacher, Sohn der unverehelichten Charlotte Schuhmacher aus Berlin.
Auch danach änderte sich im äußeren Leben von Lotte noch nichts, das Kind blieb noch gewissermaßen Amtsgeheimnis. Sie war nur entsetzt und kam sich vertrieben vor, als der Säugling zur neuen Pflegemutter übersiedelt wurde, denn die Schlafstube der Hebamme war Lotte eine zweite Heimat geworden.
Die Bauersfrau, die nun den Knaben zu sich nahm – eine Altsitzerin , die sich auf das Pflegegeld mehr freute als auf das Kind –, bestand darauf, dass er sofort getauft werde, denn einen Heiden nehme sie nicht unter ihr Dach. Lotte musste also ihr letztes erspartes Geld für ein mit Stickerei verziertes Taufkissen und einen Schleier, sowie für Kuchen und ein paar Flaschen Wein ausgeben, damit die Bauersfrau die Hebamme und auch gleich ein paar Gevatterinnen von sich einladen konnte, und so vor allem einmal zu einer netten kleinen Feier kam. Lotte aber blieb gerade noch so viel, um die Kosten für die kirchliche Zeremonie tragen zu können, nach deren Beendigung sie ja schleunigst zu ihrem Dienst zurückkehren musste.
Der Pfarrer hatte ihr in seiner Stube eine strenge Predigt gehalten, er schalt, dass gerade sie in ihrem Beruf, der doch gewiss ein christlicher und entsagungsvoller sein solle, der allgemeinen Sittenlosigkeit gefrönt habe. Lotte gestand zu, dass sie ihrem Berufe wahrscheinlich viel schuldig geblieben sei, dass sie ihn vielleicht nicht so ernst genommen habe, wie man wohl tun müsse – aber es sei eben stets etwas in ihr gewesen, wie ein Druck, wie eine Schranke, etwas, das sie gehindert habe, die wahre Befriedigung in der Arbeit zu finden, und naiv und treuherzig setzte sie hinzu, sie glaube aber, jetzt würde das besser werden.
Читать дальше