Bei den Vorbereitungen zu dieser Übersiedlung ließ sie sich von der Aufregung der Eltern, die ihr einziges Kind noch nie so weit von sich gelassen hatten , wie die Mutter sich ausdrückte, anstecken. Das dumpf Erwartungsvolle in Lotte erhellte sich zu einer Art Gewissheit der Erfüllung, und in einem zaghaften Übermut meinte die Tochter zu den Eltern: „Passt auf, ich komme überhaupt nicht wieder in eure Steinwüste zurück, mir blüht das Glück auf dem freien Lande!“ – Worauf ihr Vater lachte und meinte, hoffentlich blühe es nicht gerade auf einem saftigen Misthaufen, vor dem die Städter immer gerne die Nase gerümpft hätten, dessen entsinne er sich noch genau, während die Mutter ihre Tochter verwies: „Glück ist erfüllte Pflicht, und die ist überall gleich schwer!“, und Lotte möge sich nur ja recht zusammennehmen, denn dort habe sie, anders als in der Klinik, jede Verantwortung allein zu tragen.
Aber Lotte hatte dort in der Hauptsache nur einen alten, halb blinden Patienten in einem ausgedehnten, herrlichen Park und in den Wäldern spazieren zu führen, die das ihm zugehörende Gut umgaben. Er war ein Mensch, der viel schwieg, der, dem Leben ziemlich abgewandt, dem Geschick dankbar war für sein geschwächtes Gesicht und nun auch möglichst nichts mehr hören wollte von der Welt. Einzig aus den sich mit den Tages- und Jahreszeiten wandelnden Gerüchen und geheimnisvollen, nicht mit plumpen Sinnen aufzunehmenden Lauten der Natur – (Geheimnissen, die allein seiner Meinung nach sich zu enträtseln verlohnen könnten) – empfing der alte Herr noch Lebensfreude und Anregung und durchstreifte darum mit einer fast strengen Gewissenhaftigkeit täglich nach abgemessenen Stunden in Begleitung Lottes Wiese, Wald und Feld. Er hätte keine andere Pflegerin so gut ertragen können wie sie, die ebenso wenig sprach und ebenso wenig an dem Getriebe der Welt interessiert war wie er. Lotte blieb über ein Jahr bei ihm, ihre Gesundheit war bald wieder hergestellt, sie sah blühend aus, und zum Schlusse dieser Zeit stand sie vor ihrer Niederkunft.
Die Geschichte ihrer Verführung gleicht der ihres bisherigen Lebens: Stumpf, unerweckt war Lotte den Weg von einem unberührten Mädchen bis zur gebärenden Frau gegangen. Das Wirtschaftsfräulein vom Gute hatte sie mit auf ein Kirchweihfest gelockt, welches das Fräulein ohne Begleitung nicht hatte besuchen mögen. Lotte hatte, wenn auch unter Gesten der Enttäuschung über einen so vulgären Zweck, von ihrem Patienten frei bekommen, war mitgegangen, hatte mitgetrunken, mitgetanzt – hatte wie alle anderen schwer und heiß, wenn auch ohne die allgemeine Freudigkeit, in den Armen verschiedener Tänzer gelegen, deren gerötete Gesichter sie wie in einer halb quälenden, halb wohligen Benommenheit kaum hatte unterscheiden können. Nur einmal, als sie sich besonders fest in der Taille umpresst fühlte, fiel ihr im wirbligen Drehen eines wilden Galopps ein lockiges Hinterhaupt dicht neben ihrer Wange deutlich auf, doch schnell gingen ihr Blick und klareres Bewusstsein in Gewühl und Dunst des Festes wieder unter. Und so hatte sie sich schließlich mit hinausziehen lassen in eine schwüle, schwarze, dennoch schon frühherbstlich matte Nacht – hatte sich, in einer Art gespannter Erschöpfung auf den Füßen taumelnd und leicht nachgebend, auf die von der Hitze des Tages noch warme Erde niederdrücken lassen, hatte, während sie unter Lachen ihr Gesicht vor einem heißen, fremden Atem wegwendend zu retten suchte, wollüstig-schweren Druck auf ihrer Brust verspürt, ein Aufhämmern in allen ihren Adern, auch einen irgendwie aufstechenden Schmerz in ihrem Leib. Ein leises, dunkles Lachen, das sie fern und fremd ihrer eigenen Kehle entströmen hörte, hielt sie jedoch wie in einem betäubenden Rausch. Zuletzt wollte wohl ein tiefer Schauder sie aufmahnen, sie wie vor einer namenlosen Gefahr aufjagen, aber ehe sie sich noch gegen das Dunkle, sie machtvoll Umschlingende aufbäumen konnte, war alles wieder ruhig, Mahnung, Schauder, Pein und Lachen still, alles war wieder fern und frei, sie allein und sie immer und stets. Verträumter denn je hatte sie sich in dem hellen Saal, unter der schmetternden Musik auf einmal tanzend zwischen den tanzenden Paaren wiedergefunden, und erst auf dem Heimwege mit dem Wirtschaftsfräulein, das mit ihrem Verehrer hinter ihr hergegangen, während Lotte allein vorausgeschritten war, hatte sie von ungefähr empfunden, dass es sich so schön ging auf der Erde wie noch nie und dass das zehrend Lauernde in ihr plötzlich nicht mehr da war.
Von nun ab war Lottes Wesen wie von einem starken Druck befreit, und sie lebte in einer fast leichtsinnigen Zufriedenheit in die nächste Zeit hinein, in der sie heimlich, ohne sich jemandem anzuvertrauen, ihre Schwangerschaft ertrug und verbarg. Erst als sie bereits die Regungen des Kindes verspürte, ward sie bedachter und auf ihre Weise auch aktiv. Sie hatte immer ihr Gehalt fast ohne Abzug über Vereinbarung nach Hause geschickt, wo es die Mutter auf eine Sparkasse trug. Jetzt behielt Lotte über die Hälfte des Geldes zurück, trotz der empörten Fragen und Vorwürfe der Mutter, auf welche die Tochter in ihren Briefen, was sie früher nie gewagt hätte, einfach nicht einging.
Lottes Gemüt war völlig ruhig und ausgeglichen, ihre Gestalt nur wenig verändert, sie umwickelte den Leib außerdem noch mit Binden und schaffte sich weite, formlose Kittelschürzen an. Gesundheitlich ertrug sie ihren Zustand ohne jede Beschwerde. Als sie zur herangekommenen Zeit ein erstes, kurzes und schnell vorübergehendes krampfartiges Ziehen im Kreuz verspürte, machte sie sich auf, wanderte nachts eine Stunde weit ins Dorf und vertraute sich der Hebamme an. Diese meinte, es wären mindestens noch vierundzwanzig Stunden Zeit, und versprach Lotte, nachdem diese ihr ein Fünfmarkstück zugesteckt hatte, sich ihrer anzunehmen und auch schleunigst eine Pflegestatt für das Kind zu suchen. Lotte ging wieder zurück, ohne jede Besorgnis vor dem Kommenden, freilich auch ohne jedes Bedenken Vater, Mutter oder denen gegenüber, denen sie verbunden und verpflichtet war. In einem heiligen Egoismus schlief sie den Rest der Nacht gut, doch als sie ihren Patienten am nächsten Vormittag spazieren führte, ward sie sich an einem Zeichen bewusst, dass die Geburt begann. Sie konnte sich nicht anders helfen, als dass sie den alten Herrn zur nächsten Bank führte, ihn sich dort niederzusetzen zwang, um dann trotz seines Murrens unter einer flüchtigen Entschuldigung ins Haus zurückzueilen.
Die Beschwerden der ersten Wehen kamen, gingen vorüber, kamen wieder, vergingen noch einmal, indes Lotte ihren Dienst weiter versehen musste. Nachts endlich schlich sie sich wieder aus dem Haus, weil sie Stöhnen und Schreie kaum noch unterdrücken konnte. Sie hatte sich ein paar Handtücher unter den Arm gedrückt und ihr weites, schwarzes Schwesterncape genommen.
Der Hofhund blaffte auf, als sie aus dem ebenerdigen Fenster der Waschküche ins Freie kletterte, und sie musste ihn unter Krämpfen und unterdrücktem Stöhnen durch Koselaute beruhigen. Sie gelangte noch in das nächste Kornfeld, wo zwischen junigrünen, doch schon beinahe mannshohen Halmen der in Gebärkrämpfen zuckende und arbeitende Leib sie in die Knie zwang. In letzter Überlegung hob Lotte die Kleider von sich ab, um sie möglichst sauber zu halten, und dann, kniend, stöhnend, mit geschulter Hand ihren Leib pressend, gab sie neues Leben von sich. Bald konnte sie das Kind erkennen, erblickte alle Gebilde der Geburt so vollkommen vor sich, wie sie es auf den Lehrtafeln normale Geburt als angehende Krankenschwester gesehen, aber in den Pflegejahren praktisch nie erfahren hatte.
Das Kind schrie sofort kräftig auf – von einem Himmel in lichter Nachtbläue leuchtete auf Mutter und Kind ein Mond herab, abnehmend im ersten Viertel. Erregt flatterten und schrien aufgescheuchte Lerchen durch die Halme, deren Nester in der Nähe waren. – Lotte presste eines der Handtücher gegen den blutenden Leib, das andere warf sie über das Kind, dann sank sie, von Schwäche überwältigt, auf den Rücken, schloss die Augen, und für eine Weile verging ihr das Wimmern des Neugeborenen. Die Nachwehen weckten sie wieder auf, von Neuem massierte und drückte sie ihren Leib, bis sich auch der letzte Akt der Geburt vollzogen hatte. Sie holte aus ihrer Tasche ein Messer hervor, das sie immer bei sich hatte, um für ihren Patienten Blumen oder Reiser abzuschneiden, damit entnabelte sie das Kind, verband die Wunde mit ihrem Taschentuch, hüllte das still gewordene, winzige Wesen fester in das Handtuch ein, klopfte es zart auf Rücken und Gliederchen – und endlich öffnete sie ihre Taille und legte das Neugeborene, entgegen der ihr bekannten Lehre der modernen Säuglingspflege, die das Kind in den ersten vierundzwanzig Stunden so gut wie fasten ließ, an die harte, heiße, längst der Entlastung harrende Brust. Zu ihrem Glück und ihrem Erstaunen begann das Kind auch sofort geschickt und kräftig zu saugen, und nach anfänglichem Schmerz durchzitterte die Mutter ein solches Gefühl der Wonne, die stumpfe und verträumte Seele durchbebte ein solches Glück, den ganzen Menschen durchfuhr ein so seliges Empfinden seiner selbst und seines Daseins, dass Lotte den Kopf zurückbog, und mit Augen, in denen stille Tränen standen, zum Himmel aufblickte, zu den flimmernden Sternen, zu dem schwimmenden Mond.
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