Der Geheimrat weiss besser, wer die da unten sind; er lehnt über dem Korbrand und schaut zu den knatternden Gesellen hinab, die zum Greifen nah unter ihm fahren. Kaum vierzig Meter hoch treibt der Ballon im südwestlichen Wind. Drunten arbeiten durchtrainierte Körper spielend leicht unter den Stössen der elenden Strasse; Knie, die sich an die Tankkästen schmiegen, federn die ganze Gestalt ab. Braune Gesichter blicken ehern ruhig fahrtvoraus – hinter den Brillen verbergen sich Augen, in sich gekehrt und von Lebensleuchten erfüllt.
Mit einer gewissen Ergriffenheit betrachtet Jakoby die straffen, sportgestählten Menschen: Die alle werden sich morgen über Aktenberge, Geschäftsbücher und Schreibtische beugen, keiner kann rasten im Alltag. Nun erjagen sie sich einen Zipfel köstlicher Freiheit. Solche Morgenstunden, windesselig durchbraust in eine taufrische Welt hinein, dünken denen da unten Zugaben an das Mass des Lebens, Geschenke der unerbittlichen Natur an die verrinnende Jugend oder an die Lebensreife. Diese Beglückten werden sich am Montag mit verzehnfachter Lebensinbrunst in ihren Beruf hineinstürzen – wach und durchgerüttelt, während die Kollegen den Sonntag verschlafen oder in zahmen Spaziergängen vertrödelt haben. Glücks übergenug, wenn solch ein Tag die Ketten zerbricht.
Niemals kann der Geheimrat allein im Ballon aufsteigen; seine Hände sind von Röntgennarben völlig zerfressen und derartig empfindlich, dass er in Augenblicken der Gefahr nicht imstande wäre, die schweren Sandsäcke vom Haken zu heben. Sogar beim Operieren kämpft sein zäher Wille mit heftigen Schmerzen, wenn Jakoby die Messer und Zangen bedienen muss. In spätestens einem Jahrzehnt werden die Instrumente aus den kraftlosen Händen des meisterhaften Chirurgen sinken. Kommt dieser Tag, so wird Jakoby dankbaren und kühlen Herzens sich die Mündung einer Pistole an die Stirn setzen: Ich habe gearbeitet, ich war in meinem Kreis Schöpfer meiner Zeit – Ehre und Wohlstand lohnten die Mühe – ich habe gelebt – –
Drunten im Klubauto streckt Helga Hillesen eine Leuchtpistole in die Luft, der gleissende Strahl einer Rakete fährt schräg in den Himmel. Die Jagd geht auf! Sekunden später wuchten zwei pralle Sandsäcke vom Ballonkorb nieder und knallen in ein Weizenfeld – senkrecht himmelan schiesst der Eridanos. „Ilse!! Wie oft soll ich dir sagen, dass es unbedingt verboten ist, die vollen Säcke abzuwerfen. Schütte den Sand doch aus –“
Im eiligen Steigen kitzelt der Wind von oben nach unten. „Ich werde die beiden Säcke bezahlen, Papa. Unter uns war bloss ein Getreidefeld.“
„Das darfst du nicht, Kindchen. Wer Sport treibt, soll die Sportgesetze achten –“
„Ach, Papa –“ grollt sie im schwankenden Korb, „musst du denn immer auf dem Katheder stehen – ?“
Am Rande der hingelagerten Tiefe glänzen Potsdams Türme im Dunst, ganz weit zurück liegt Berlin. Langsam dreht sich der Ballon; wo er schwebt, scheint die Achse der Welt zu sein. In fünfzehnhundert Metern fast gen Osten treibend, entzieht sich der Eridanos seinen enttäuschten Verfolgern. Jakoby und seine Tochter lehnen vergnügt über dem Korbrand und sehen zu, wie die Masse der Motorradfahrer ratlos auf den Südweststrassen anhält; endlich fährt drunten der ganze Schwarm zurück und biegt in einem Dorf gen Osten ein. Ilse lacht: „Sie sollen nur kommen! Wenn wir sie bei Zossen haben, gehen wir wieder herunter. Später machen wir eine Zwischenlandung und locken unsere Jäger ganz von den Strassen weg ...“
Das Wild schlägt Haken und narrt die Meute ...
Auf der Südstrasse hält das Dreigestirn Themal-Moebius-Kossack die bewährte Fahrtbrüderschaft, solange es angehen mag. Am Himmel treibt der Eridanos schräg auf die Landstrasse zu. Der Klubmeister schlägt vor, dass man sich noch weiter östlich entferne. „Das kenne ich –“ sagt Thomas Themal, „die kommen gleich wieder herunter, und der Bodenwind geht Südwestsüd.“
„Schön. Macht’s, meine Lieben. Ich meinerseits verziehe mich an die Spreewaldgrenze. Sicher – dort werden sie heruntergehen!“ Er winkt, seine rotbraune, schwere Maschine mit den beiden Scheinwerfern knattert in eine Strasse zur Linken.
Mitten in Thoras fahrtseliges Herz fällt eine Stunde köstlichster Einsamkeit mit dem Freund. Dem Klubmeister gönnt sie den Sieg – denn jener liegt in den Fesseln eines ungeliebten, durch Familientradition aufgezwungenen Berufes, nur im Sport blüht diese graue Seele auf, bedeckt sich mit den Farben einer sauberen Lebensfreude. Doch Thomas Themal nimmt das Leben überall von der schönsten Seite – ihm bringt der Tag Glücks genug. Also Thomas – gönne dem Kameraden seinen Pokal – – aber wenn du ihn dir holst, so will ich mich freuen für dich.
Die Hände fest um die Lenker gespannt, Zündung und Gasgemisch aufs Optimum regulierend, ziehen die zwei Motorkameraden in die Heide hinein und an Forsten vorbei. In der schnellen Fahrt donnern die Motoren, und die Maschinen sind schon vollkommen staubbedeckt. Solche Fahrt ist eine Sonntagsandacht von besondrer Weihe, zugebracht in der einen, grossen, einigen Kirche Gottes! Dazu singen die beiden Motoren die tiefe Grundmelodie gleich einem Orgelbass – ein ganzer Chor von Stimmen klingt hinein: Das Schwirren der Ventile, das Summen des Dynamos – – dazu singt des Studenten Blut in Lebensjauchzen!
Sportkameradschaft, wundervolles Bündnis unserer Zeit! Die Mucker wissen es nicht – noch singen uns keine Lieder davon. Man lernt es nicht kennen hinter dem Ofen, nicht im schwülen Tanzsaal oder im trägen Sand. Aber wo der Ski lange Strähnen in den Schnee reisst – wo Hacke und Seil an senkrechten Felsen herauftasten – wo rastlos hämmernde Motoren um die Wette sausen – – dort findest du die Blume der Sportkameradschaft. Stürzest du, so will ich dir helfen – lachst du über Gefahren und Mühen, Kameradin, so will ich Gefahr wie Mühen und dein Lachen herrlicher mitempfinden. Und dass du schön bist und ein junges Weib, das schwingt nur an mein Ohr wie ein ferner, seliger Gesang.
Thora Moebius weiss: So empfindet Thomas für sie. Solange sie neben dem Freund am Steuer ihrer Maschine sitzt, mildert sich in ihrer Brust die sengende Flamme. Wäre nicht zwischen ihnen die Sportkameradschaft – es wäre nicht zu tragen für Thora. Sie hegt und hütet ihn mit ihrer Seele, kühner und männlicher reift sein Herz. Sie weiss, dass alle Wege versperrt sind – aber sie wartet mit einem starken Mut, dass er eines Tages verwandelte Augen zu ihr aufschlagen wird: Du bist es – –
Dann – dann – – Weiter kann Thora noch nicht denken –
Doch mit denselben Augen, die einst erwachen werden aus dem Traum des Kindseins, blickt Thomas Themal immer wieder zur Höhe hinauf, wo der Eridanos im Blauen hängt. „Das ist heute eine besondere Wettfahrt, Thora! Einen Becher und eine Klubmedaille – und privatim ein Herz für mich. Darum jagen wir!“
Droben im hohen Ballonkorb späht Ilse Jakoby nach ihren Verfolgern. Jetzt befindet sich die Masse der Jäger ganz weit im Osten, viele sind sogar dem Ballon schon über die Zossener Südstrasse hinaus gefolgt. Jetzt schiesst tief, tief unter dem Ballon das Klubauto über die staubige Landstrasse –
Jetzt zieht Ilse Jakoby kräftig an der Ventilleine. Der Eridanos fällt. Sausender Wind kitzelt von unten nach oben, scharfer Druck presst die Ohren. Der Geheimrat hat die Sandschaufel in der Hand und bremst zum Zorn seines Töchterchens den scharfen Fall. Tiefer, tiefer! Jetzt schreibt die Fahrt schon einen Bogen nach Süden, nun hängt der Ballon hundert Meter hoch über Waldgipfeln, hebt sich ein wenig und treibt nach Südwesten. Alles, was nach Osten gefahren ist, kehrt abermals um und folgt lachend und wütend dem geschickten, fliegenden Fuchs.
Dicht vor den surrenden Motoren Thomas Themals und der Frau Thora Moebius kreuzt der Ballon zum zweitenmal hoch über die Südstrasse – südwestlich segelt er, lautlos und riesenhaft wie ein Fabeltier. Ilse Jakoby hält den linken Arm in die Stricke gefasst, Sonne blitzt auf ihrem blossen Blondhaar – spöttisch schwenkt sie den Fuchsschwanz zu den Fahrern hinunter.
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