Gutes Schreiben macht Zuschauer und Leser zu regelrechten Hellsehern. Ein dramatischer Dialog hat die Kraft, zwei Bereiche miteinander zu verbinden, die in den Worten ungesagt bleiben: das Innenleben einer Figur und das Innenleben ihrer Leser/Zuschauer. Wie bei einem Funksender schaltet ein Unterbewusstsein auf die Frequenz des anderen, und unser Instinkt nimmt den inneren Aufruhr der Figur wahr. Der Literaturwissenschaftler Kenneth Burke hat das einmal so formuliert, dass Storys für uns das Rüstzeug seien, in der Welt zu leben, im intimen Austausch mit anderen, vor allem aber im intimen Austausch mit uns selbst.
Diese Kraft verleihen uns Autoren, und zwar in einer Reihe von Einzelschritten: Zunächst einmal erschaffen sie jene Metaphern der menschlichen Natur, die wir »Figuren« nennen. Dann dringen sie in die Psyche dieser Figuren vor, um bewusste Bedürfnisse und unbewusste Wünsche freizulegen, Sehnsüchte, die das innere wie das äußere Ich antreiben. Gewappnet mit diesen Einblicken, lassen sie die dringendsten Wünsche ihrer Figuren im Brennpunkt eines Konflikts aufeinanderprallen. Szene für Szene verknüpfen sie die Aktionen und Reaktionen ihrer Figuren zu Wandlungen, Wendepunkten. Im letzten Schritt lassen sie ihre Figuren sprechen, allerdings nicht in Form repetitiver Alltagsmonotonie, sondern in der Beinahe-Poesie, die wir als Dialog kennen. Wie Alchemisten brauen und formen sie ihre Mixtur aus Figur, Konflikt und Wandel, um sie schließlich mit Dialogen zu verzieren und aus dem wertlosen Metall des Daseins das glänzende Gold einer Geschichte, einer Story, zu gewinnen.
Einmal ausgesprochen, tragen Dialoge uns auf Wellen der Wahrnehmung und des konkreten Inhalts dahin, die vom Gesagten über das Ungesagte bis hin zum Unsagbaren nachschwingen. Das Gesagtebesteht aus den Ideen und Empfindungen, die eine Figur anderen gegenüber äußert; das Ungesagtebesteht aus den Gedanken und Gefühlen, die die Figur mit ihrer inneren Stimme äußert, allerdings nur sich selbst gegenüber; das Unsagbareschließlich sind die unbewussten Triebe und Wünsche, die eine Figur nicht einmal vor sich selbst in Worte fassen kann, weil sie stumm sind und jenseits der Wahrnehmung liegen.
Egal, wie aufwendig die Inszenierung eines Theaterstücks auch ist, wie lebendig die Schilderung eines Romans und wie opulent die Kameraführung eines Films: Die tiefgreifende Komplexität, die Ironie und das »Innere« der Story werden durch die Figurenrede geformt. Ohne ausdrucksvolle Dialoge verlieren die Geschehnisse an Tiefe, die Figuren werden eindimensional, die Story verflacht. Mehr als jede andere Charakterisierungstechnik (Geschlecht, Alter, Kleidung, Gesellschaftsschicht) haben Dialoge die Kraft, Storys durch die vielschichtigen Sedimente des Lebens ans Licht zu holen und eine bloß komplizierte Erzählung ins volle Spektrum der Komplexität zu erheben.
Merken Sie sich auch immer Ihre Lieblingssätze, so wie ich? Ich glaube, wir lernen Dialogpassagen nicht nur deshalb auswendig, weil beim Zitieren das lebendige Wort-Bild, das sie malen, immer wieder neu entsteht, sondern auch, weil wir im Widerhall der Gedanken einer Figur unsere eigenen hören:
»Und morgen und dann morgen und dann morgen,
So kriecht’s im Schleicheschritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silbe hin im Lebensbuch;
Und alles Gestern hat nur Narrn geleuchtet
Beim Gang zu Dreck und Tod.« 1
Macbeth im gleichnamigen Shakespeare-Stück
»Von allen Spelunken dieser Welt muss sie ausgerechnet in meine kommen.« 2
Rick in Casablanca
»Schlingernd halt ich auf dich zu, o Wal, der du alles vernichtest und doch nichts besiegst; bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei ich meinen letzten Hauch nach dir!« 3
Ahab in Moby Dick
»Nicht, dass dagegen was zu sagen wäre.«
Jerry in Seinfeld
So wie diese vier Figuren hat auch jeder und jede von uns schon das Brennen der Ironie ertragen müssen, die blitzartige Einsicht in das, was die Welt uns angetan hat, oder – schlimmer noch – was wir uns selbst angetan haben, diesen zweischneidigen Moment, wenn das Leben sich auf unsere Kosten amüsiert und wir gar nicht mehr wissen, ob wir lachen oder leiden sollen. Aber wie sollten wir die köstlichen Geschmacklosigkeiten solcher Ironie angemessen würdigen, wenn die Schriftsteller sie nicht für uns mit Worten würzen würden? Wie sollten wir all die Paradoxien in Erinnerung behalten, ohne die Gedächtnisstütze von Dialogen?
Ich liebe die Kunst des Dialogs in all ihren Variationen. Diese Zuneigung hat mich bewogen, das vorliegende Buch zu schreiben und dem krönenden Akt beim Entwickeln einer Story auf den Grund zu gehen: wie man seinen Figuren eine Stimme gibt.
* Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)
Teil I: Die Kunst des Dialogs erweitert die Definition des Dialogbegriffs auf grundlegende Weise und vervielfacht seine Einsatzmöglichkeiten. Die Kapitel 2bis 5betrachten Funktionen, Inhalt, Form und Technik der Figurenrede in den vier wichtigsten Story-Medien.
Teil II: Fehler und ihre Behebung deckt Mängel auf, von Unglaubwürdigkeiten und Klischees bis hin zum überexpliziten Schreiben und zur Wiederholung, erforscht ihre Ursachen und verordnet die nötigen Heilmittel. Um die diversen Techniken der Dialoggestaltung besser zu illustrieren, zitiere ich Beispiele aus Romanen, Theaterstücken, Kino- und Fernsehfilmen.
Teil III: Dialogentwicklung widmet sich dem letzten Schritt beim Schreiben – dem Finden der Worte, die den Text erschaffen. Wenn wir von Autoren sagen, sie hätten ein »gutes Ohr für Dialoge«, dann meinen wir damit, dass sie figurenspezifisch schreiben können. Jede Figur spricht mit einer Syntax, einem Rhythmus, einem Grundton und vor allem einer Wortwahl, die niemand außer ihr so verwenden würde. Im Idealfall ist sie ein wandelndes Lexikon ihres ureigenen Wortschatzes. Originelle Dialoge haben ihren Ursprung also immer im Vokabular.
Um die Kraft figurenspezifischer Rede zu illustrieren, betrachten wir einige Szenen aus Shakespeares Stück Julius Cäsar , Elmore Leonards Roman Out of Sight , Tina Feys Fernsehserie 30 Rock sowie dem Film Sideways von Alexander Payne und Jim Taylor.
Teil IV: Dialog-Design beginnt mit einer Analyse der einzelnen Bausteine bei der Gestaltung von Storys und Szenen. Kapitel 12zeigt, wie sich diese Formen auf die Äußerungen der Figuren auswirken. Darauf folgen sechs Fallstudien auf Grundlage verschiedenster Szenen: ein ausgewogener Konflikt aus der Serie Die Sopranos , ein komischer Konflikt aus der Comedy-Serie Frasier , ein asymmetrischer Konflikt aus dem Theaterstück Eine Rosine in der Sonne , ein indirekter Konflikt aus dem Roman Der große Gatsby , reflexive Konflikte aus den Prosatexten Fräulein Else und Das Museum der Unschuld sowie ein Minimalkonflikt aus dem Film Lost in Translation .
Mit dieser Vorgehensweise betrachten wir die beiden Hauptprinzipien wirkungsvoller Dialoge: Erstens erzeugt jede Äußerung in einem Dialog eine Aktion bzw. Reaktion, die die Szene voranbringt. Zweitens finden diese Aktionen ihren Ausdruck zwar in der äußeren Verhaltensweise des Redens, die eigentliche Aktion der Figur entspringt aber unsichtbar aus dem Subtext.
Als eine Art Navigationssystem für Schreibende möchte das vorliegende Buch den Anfängern eine Anleitung sein und den Verwirrten neue Wege weisen. Falls Sie sich erst kürzlich in diese Kunstform vorgewagt haben und glauben, in einer kreativen Sackgasse zu stecken, führt das Buch Sie auf den richtigen Pfad zum Erfolg; haben Sie das Schreiben schon zum Beruf gemacht und vielleicht ein wenig die Orientierung verloren, bringt das Buch Sie sicher zurück nach Hause.
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