Lena Kallenberg - Das Apfelsinenmädchen

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Stockholm gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Signe und die etwas jüngere Alice haben ein schwesterliches Verhältnis zueinander. Sie wuchsen beide unter ärmlichen Verhältnissen in einem Kinderheim auf und sind seitdem unzertrennliche Freundinnen. Als Signe eine Stelle als Magd außerhalb der Stadt bekommt, muss sie das Kinderheim verlassen. Ihr Schmerz über die Trennung ist groß, doch in diesen schweren Zeiten, muss man jede Chance, die einen weiterbringen könnte, ergreifen. Die Bedingungen auf dem Bauernhof sind hart und Signe arbeitet bis zur Erschöpfung. Und so kommt es, dass die beiden Freundinnen sich aus den Augen verlieren, der Kontakt bricht ab und Signe glaubt Alice schon tot. Doch Alice lebt. Tragische Umstände führen die beiden jungen Frauen wieder zusammen. Gezeichnet vom Leben und im stetigen Kampf ums Überleben versuchen beide erneut ihr Glück. Doch das Schicksal spielt ihnen weiter erbarmungslos entgegen. DAS APFELSINENMÄDCHEN ist ein kraftvoller und ergreifender Roman über zwei Frauenschicksale im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ohne Beschönigung und mit viel Realismus beschreibt Kallenberg die Verhältnisse junger Frauen im Armenviertel Stockholms und liefert zugleich ein bewegendes und ergreifendes Zeit- und Sittenbild Schwedens im Umbruch zur Moderne. Eine empfehlenswerte Lektüre!"Lena Kallenberg entwirft ein Sittenbild in kräftigen Farben und mit oft drastischen Details: da sind etwa die Flohstiche und Läusebisse, unter denen Signe leidet; das immer gleiche Essen beim Bauern – Hering und Kartoffeln –, Signes selbstverständliche Königstreue, der lungenkranke, vernachlässigte Nachbarsjunge oder die Abtreibung auf dem Abort mit Phosphorstäbchen." Süddeutsche Zeitung-

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Lena Kallenberg

Das Apfelsinenmädchen

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Das Apfelsinenmädchen

Schwedisch Angelika Kutsch

Apelsinflickan: en berättelse från åren 1882-1883 © 1997 Lena Kallenberg

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711493724

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Eine Erzählung aus den Jahren 1882-1883

Für die Armen, die keinen Anwalt haben

Dann also adé, Magd

Alices Finger streicheln Signes Haare, drehen die hellen Ringel zu einem luftigen Wulst oben auf dem Kopf. Ziehen die dünnen Haare über den Ohren zu sich kringelnden Locken. Sie berührt Signe mit dem Kinn an der Schulter. Ihre Augen begegnen sich im bauchigen Spiegelglas.

„Du bist jetzt erwachsen und das ist die neueste Mode“, sagt Alice energisch. Ihr herzförmiges und Signes schmales Gesicht scheinen ineinander zu gleiten. Werden zu einem Spiegelbild. Täuscht der Schleier von Tränen das Auge?

Signes hohe Wangenknochen und die gerade Nase treten durch die neue Frisur deutlicher hervor, lassen sie sichtbar werden. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her.

„Das ist doch unpassend für eine Magd“, flüstert sie.

Alices Finger greifen fester zu, reißen an den Haarsträhnen und flechten sie mit ruckartigen Bewegungen zu einem strammen Zopf auf dem Rücken.

Die Hand wird kalt von der Eisenklinke, als Signe die Holztür hinter sich schließt. Sie bindet die Zipfel des weißen Kopftuchs unterm Kinn zusammen und richtet den langen Zopf.

Nur nicht anfangen zu weinen wie ein kleines Kind, das hat sie sich geschworen. Aber in ihrem Zwerchfell wütet Traurigkeit nach dem Abschied von Alice.

Alice hat ihre Hand steif in die ihre genommen.

„Dann also adé, Magd“, hat sie gesagt, sich auf den Fersen umgedreht und den Kopf verächtlich in den Nacken geworfen.

Alice und sie, die so unzertrennlich gewesen sind.

Sie sind zur selben Zeit in das Kinderheim der Bibelfrauen gekommen. Haben Brotkanten geteilt, Zucker gestohlen, vor den Schenken am „Säuferhügel“ gebettelt. Im selben Bett geschlafen. In den letzten Jahren haben sie sich allerdings für unterschiedliche Dinge interessiert. Alice stand gern vorm Spiegel und probierte neue Frisuren aus. Machte sich über Signe lustig, die dasaß und Schönschreiben mit dem Federhalter übte. Aber Freundinnen waren sie immer gewesen. Doch als sie sich eben in dem niedrigen Holzhaus verabschiedeten, hat Alice nicht einmal traurig ausgesehen, obwohl sie nicht wissen, wann sie sich wiedersehen werden.

Signe steht im Schnee. Sie zieht sich das Umschlagtuch über das Kopftuch und schaut zu den windschiefen Hütten und Schuppen von Vitabergen hinauf, die sich auf den Felsen drängen, dort, wo sich Schneematsch mit Spülwasser mischt. Kinder laufen barfuß durch den Schmutz und Frauen schleppen Wassereimer vom Neuen Marktplatz herauf. Einen Brunnen gibt es nicht in den Vitabergen, obwohl hier so viele Leute wohnen. Arme Leute, denkt Signe.

Die Märzluft ist rau und duftet nach Erde, Schneeflocken taumeln vom Himmel. Ein Schneestern legt sich auf Signes Fäustling. Sein Muster zeichnet sich einen Augenblick gegen die graue Wolle ab, ehe er sich in einen dunklen Fleck verwandelt.

Tränen sickern bis zu ihren Mundwinkeln. Sie schmecken salzig und Signe wischt sich rasch über die Wange. Die Haut brennt von der derben Wolle.

Das halbe Leben ist vergangen, seit Vater mich bei den Bibelfrauen in den Vitabergen abgegeben hat, denkt sie.

Damals war sie acht Jahre alt, als eine magere Bibelfrau sie in der Garderobe des Kinderheims einzufangen, sie festzuhalten versuchte.

„Kleine Kratzbürste“, wurde sie genannt. Gespuckt und gekratzt hat sie wie eine Katze. Sich an Vaters Bein festgeklammert. Aber Vater hat sich gelöst und ist hinausgelaufen ohne sich umzusehen.

Sie hat die Frau in den Arm gebissen. Ist hin und her gelaufen in dem Raum und hat mit ihren schmutzigen Fäusten gegen die Wände gehämmert. Erst gegen Abend hat sie sich beruhigt. Sie erinnert sich, dass Fräulein Åberg sie auf den Schoß genommen und sie mit Brei gefüttert hat wie ein kleines Kind.

Signe schüttelt sich den Schnee ab. Sie – Signe Gustavsdotter – ist jetzt erwachsen und auf dem Weg zu ihrer ersten Stellung als Magd, um eigenes Geld zu verdienen. Niemand soll ihr mehr „Waisenhausbalg“ nachrufen. Niemals mehr.

Sie zieht das Tuch enger um sich. Wühlt in ihrem Bündel. Unter dem Leibchen und den Wollstrümpfen berührt sie die glatte Seide mit den Fingern. Die rosa Seidenschleife, die Vater ihr zur Konfirmation im letzten Jahr geschickt hat. Wenn sie genügend Geld gespart hat, will sie nach ihm suchen. Sie will, dass er stolz auf sie ist.

„Sieh, Vater, was ich ehrlich verdient habe“, wird sie sagen.

Von der Hammarbybucht weht ein scharfer Wind. Signe zittert. Hält nach einem Schlitten unten am Winterzoll Ausschau. Der Bauer hat sich verspätet. Meint wohl, sie könne warten. Sie wird eine rote Nase haben und jämmerlich aussehen. Die neuen schwarzen Stiefel sind zu groß und wirken bestimmt plump an ihrem mageren Körper. Aber um so etwas darf man sich nicht kümmern. Man muss dankbar sein, dass man überhaupt Kleider am Körper hat. Den grauen Rock hat sie mit schwarzen Bändern oberhalb der Säume aufzuputzen versucht.

An der Ecke einer Gasse stehen ein paar alte Frauen und reden. Die eine zeigt mit dem Finger auf sie und gluckst laut. Signe beißt die Zähne zusammen. Sie ist es gewöhnt, begafft zu werden.

Sonntags, wenn die Kinder aus dem Heim in einer Reihe hintereinander zur Katharinakirche gingen, sind die Leute stehen geblieben und haben neugierig geguckt. Die Kinder haben zu Boden geschaut und sich geschämt, unehelich oder verlassen zu sein. Außer Alice. Sie hat allen frech ins Gesicht gestarrt.

„Brrrr!“, mahnt eine Männerstimme.

Ein kräftiges Zugtier schüttelt den Kopf, dass die helle Mähne flattert.

Signe hat das Pferd nicht gehört. War ganz und gar versunken in ihren Gedanken wie gewöhnlich, und der Schnee hat die Hufschläge gedämpft.

Das Pferd schnaubt, hebt den Schwanz und lässt Pferdeäpfel in den weißen Schnee plumpsen. Der Kutscher strafft die Zügel.

„Komm her, du bist wohl die Magd, die ich gedungen habe?“, ruft er.

Signe läuft auf das Fuhrwerk zu, hofft, dass die alten Weiber es sehen.

Ein Lächeln breitet sich unter dem dicken Schnurrbart des Mannes aus.

„Einar Karlsson aus Fredriksberg.“

Er reicht ihr die Hand und zieht sie neben sich auf den Schlitten. Das Gesicht ist viereckig und seine hellblauen Augen schauen einen Augenblick geradewegs durch sie hindurch.

„Willkommen.“

Er schnalzt und das Pferd zieht an.

„Ist das dein ganzes Gepäck?“

Signe nickt schüchtern.

„Jaha, dann geht es jetzt nach Värmdö!“

Gute Nacht, kleiner Ludde

Das Pferd trottet mit dem Schlitten davon und kehrt um zum Winterzoll. Signe muss den Kopf drehen und zum hohen Holzzaun des Kinderheims zurückschauen. Vielleicht zum letzten Mal.

Dahinter ist Alice zurückgeblieben. Die kampfeslustige, waghalsige Alice. Und Fräulein Åberg, die Lieblingslehrerin aller Mädchen. Sie, die Signe einmal auf den Schoß genommen hat.

„Es war nicht meine Absicht, dass du so lange warten solltest. Bestimmt bist ganz durchgefroren. Aber Grålle hat es langsam angehen lassen, wahrscheinlich hatte er Angst, auf dem Eis auszurutschen. Kälte macht mir sonst nichts, aber heute muss ich wohl einen Kaffee mit Schuss trinken, wenn wir nach Hause kommen. Ja, du kriegst natürlich Kaffee ohne Schuss.“

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