Schließlich muss sie doch eingeschlafen sein. Gegen Morgen wird sie wach, das Kissen hat sie gegen das Herz gedrückt.
„Du hast Besuch! Glotz nicht, sondern beeil dich!“
Die Hausfrau steht im Frühlingswind auf der Vortreppe und schreit mit ihrer piepsigen Stimme. Signe hört das Rufen am Waldrand, wo sie kleine Tannenzweige für Spülbürsten und Birkenzweige für Scheuerbürsten schneidet. Sie hebt den großen Korb hoch, in dem sie die Zweige sammelt.
Wer könnte sie besuchen? Aber am Trippeln der Hausfrau sieht sie, dass es ein wichtiger Besuch ist.
Im Dunkeln am Klapptisch sitzt eine Dame mit Hut und einem Mantel mit Pelzkragen. Signe bleibt auf der Schwelle stehen. Die Dame nippt an einer Kaffeetasse, stellt die Tasse auf den Unterteller und schaut auf. Die vollen Lippen öffnen sich zu einem Lächeln.
„Signe! Komm her, damit ich dich ansehen kann!“
Da weiß Signe, wer die Besucherin ist, und vergisst den strengen Blick der Hausfrau. Tränen laufen ihr die Wangen herunter, und mit wenigen Schritten ist sie bei der Dame und wirft sich ihr in die Arme.
„Beruhige dich“, sagt die Dame lachend und löst ihre Arme.
„Fräulein Åberg!“, schluchzt Signe.
In ihrer Aufregung stößt sie aus Versehen gegen Fräulein Åbergs Hut. Er fliegt der Dame auf den Schoß und entblößt das braun gelockte, aufgesteckte Haar. Einige Locken haben sich gelöst und ringeln sich über den Ohren. Das macht nichts, denkt Signe. Nichts lässt Fräulein Åberg unordentlich aussehen, wenn sie ihre braunen Augen zusammenkneift und lacht.
„Signe, steh nicht herum, setz dich!“
Fräulein Åberg wirft der Hausfrau ein blitzendes Lächeln zu, die so tut, als suche sie etwas im Büfett.
„Ich hoffe, es ist möglich, dass ich mich eine Weile mit Signe unterhalte?“
Die Hausfrau macht nur „hm“ als Antwort, traut sich vermutlich nicht, einer Dame aus der Stadt zu widersprechen.
Signe schüttelt leicht den Kopf. Sie muss aufhören das fröhliche herzförmige Gesicht anzustarren.
„Ich habe große Neuigkeiten, Signe …“, beginnt Fräulein Åberg.
„Hat Vater …“ Signe presst die Hand an den Mund.
„Wir werden auswandern.“
„Wir?“ Das ist ihr so herausgerutscht, und Signe fühlt sich dumm.
„Ja, mein Mann und ich. Ich bin frisch verheiratet.“
Fräulein Åberg streckt Signe ihre Hand hin, an der ein Goldring blitzt.
„Oh, wie schön!“, presst Signe hervor. Aber es hat ihr einen Stich versetzt. Sie darf nicht zeigen, dass sie sich nicht für Fräulein Åberg freuen kann.
„In einer Woche fahren wir mit dem Auswandererschiff Orlando von Göteborg ab. Ich wollte mich von dir verabschieden. Und dann habe ich dir die Bibel mitgebracht, die du vergessen hast.“
Fräulein Åberg wickelt die schwarze Konfirmationsbibel aus dem Papier und legt sie auf den Tisch.
„Dann bleiben Sie also nicht im Kinderheim, Fräulein Åberg?“
„Frau Jansson, Frau Jansson“, sagt Fräulein Åberg seufzend. Sie schüttelt den Kopf, dass die Locken tanzen. „Mein Mann hat eine kleine Druckerei, er hofft sie in Amerika ausbauen zu können. Sein Bruder ist schon drüben und hat uns auch schon eine Wohnung besorgt. Am meisten Sorgen mache ich mir wegen der Reise“, fährt Fräulein Åberg fort und zieht die Schultern hoch.
Signe hört zu, aber die Worte erreichen sie nicht. Sie will nicht verstehen. Fräulein Åberg erzählt ein Märchen und gleich wird sie lachen und sich ein neues ausdenken. Ihre liebste Lehrerin darf nicht verschwinden.
„Emil sagt, die Staatsbeamten haben dieses Land zerstört. Hunderttausende Schweden sind schon emigriert, denn in Amerika gibt es Arbeit für alle, die arbeiten wollen.“
Fräulein Åberg neigt sich zu Signe und fügt hinzu: „Er sagt, es ist besser für ein Land, wenn es keinen König hat.“
Signe schielt zu König Oskar und hofft, dass er es nicht gehört hat. Unbekümmert fährt Fräulein Åberg fort:
„In Amerika haben sie einen Präsidenten gehabt, der ist Holzfäller gewesen, und niemand hat ihn deswegen verachtet. Lincoln hat er geheißen.“
„Warum, Fräulein Åberg, haben Sie … Entschuldigung.“ Signe kann den fremden Namen nicht in den Mund nehmen.
„Für dich bleibe ich wohl immer Fräulein Åberg.“
Signe nickt steif und beendet ihre Frage:
„Eine Reise mit dem Schiff, ist die gefährlich?“
„Es ist wegen der Seekrankheit, Signe. Ich bete zu Gott, dass ich sie nicht bekomme. Und es kann auch Diebe an Bord geben. Wir haben den Rat erhalten, kein Geld in unser Gepäck zu tun und es deutlich zu kennzeichnen. Besonders vorsichtig muss man wohl sein, wenn Iren an Bord kommen. Die sollen wie die Raben stehlen.“
Signe hört mit offenem Mund zu. Begibt sich mit Fräulein Åberg in das Amerikamärchen. Sieht ein grünes Land mit wogenden Hügeln, auf denen es von fröhlich arbeitenden Menschen wimmelt. Mitten unter ihnen steht Präsident Lincoln mit Zylinder und weißem Bart. Er hebt eine Axt und teilt einen riesigen Holzkloben mittendurch.
Die Hausfrau klappert mit der Feuerzange am Herd. Fräulein Åberg versteht das Zeichen und setzt ihren Hut auf.
„Ein Knecht von Tuna wird mich bald abholen.“
„Müssen Sie schon gehen?“, fragt Signe traurig.
Das Lachen ist aus Fräulein Åbergs Augen verschwunden. Sie senkt die Stimme.
„Da ist noch etwas anderes, Signe …“
Der ernste Ton erschreckt Signe. Sie erhebt sich und greift wie eine Schlafwandlerin nach der leeren Tasse. Sie will nichts mehr hören. Jetzt ist es genug.
„Es geht um Alice. Ihr wart doch Freundinnen. Deswegen musst du es wissen, finde ich. Alice ist von uns fortgegangen.“
Die Tasse gleitet aus Signes Hand und zerschellt auf dem Fußboden.
„Die Tasse muss sie bezahlen! Dieses faule Mädchen! Sie müssen entschuldigen, aber jetzt muss Signe Feuerholz holen, damit heute Abend ein warmes Essen auf den Tisch kommt“, zischt die Hausfrau. Sie hat die Gelegenheit gesehen, endlich ihrer Magd Arbeit anzuschaffen.
„Natürlich, aber die Tasse bezahle ich.“
Energisch nimmt Fräulein Åberg ihre Geldbörse aus der Handtasche. Die Hausfrau wirft Signe einen bösen Blick zu, wagt aber nicht zu widersprechen. Nimmt die Münze entgegen und neigt den Kopf vor der Dame aus der Stadt.
Signe ist erstarrt. Alice, ihre Alice ist fort. Tot? Sie kann es nicht mehr fragen, stiert immer noch auf den Fleck auf dem Dielenboden, wo eben noch Fräulein Åberg gestanden hat. Wie in einem Traum sieht sie sie durchs Fenster über den Hof dem Fuhrwerk von Tuna entgegenlaufen. Fräulein Åberg winkt mit einem Taschentuch. Aber Signe kann nicht zurückwinken, ihre Arme gehorchen ihr nicht. Sie hockt sich hin und greift nach den Scherben. Schließt ihre Hand fest darum. Ein roter Tropfen Blut quillt zwischen ihren Fingern hervor.
Der Wind zerrt an den roten Locken und der Korb hüpft an ihrem Arm, als sie sich bergan die Götgatan hinaufkämpft. Der Wind pfeift von Saltsjön, dem meerseitigen Salzsee mit der Hafenbucht, und die Menschen schieben sich an den Hauswänden entlang.
Ob sie zu Romdals am Hügel gehen soll? In Romdals Schenke sitzen Droschkenkutscher und Fuhrleute. Sie genehmigen sich eine Pause auf dem Weg die Götgatan hinauf. Ein Bier und ein Schnaps mit einem Stück Knäckebrot dazu. Sie wirft einen hastigen Blick in den Korb, in dem die beiden Apfelsinen herumrollen. Für die hat sie ihr letztes Geld ausgegeben, jetzt müssen sie ihr auch etwas einbringen.
Nach einem raschen Besuch in der dunklen Schenke ist sie wieder unterwegs. Es ist später Nachmittag und Stockholms blaue Dämmerung senkt sich über Straßen und Gassen.
„Du da mit dem Korb!“, ruft ein Bierkutscher.
Er bremst seine Fuhre oben auf dem Hügel, dass die Flaschen klirren, aber das Mädchen antwortet nicht.
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