Ein Jahr später wäre Preußen als Staat vernichtet gewesen. Man kann Friedrich nicht die Fehler oder gar Verbrechen seiner Nachfolger zurechnen, und dennoch: Auf das »Wunder des Hauses Brandenburg« hofften auch Hitler und Goebbels im Bunker, als sie vom Tode Roosevelts erfuhren. Und schon Thomas Mann verglich den deutschen Überfall auf Belgien im Jahre 1914 mit Friedrichs Überfall auf Sachsen, ein durchaus zulässiger Vergleich, wenn man die Motive untersucht. In beiden Fällen hatten sich Preußen und Deutschland diplomatisch isoliert, waren von einem Ring von Feinden umgeben, aus dem sie auszubrechen versuchten, in beiden Fällen unter Bruch des Völkerrechts.
Wilhelm II. hoffte wie Friedrich, dass den Sieger niemand zur Verantwortung ziehen würde. Doch Hasardieren ist keine Politik, und was Friedrich mit Glück gelang, misslang 1918 und endete 1945 in einer Katastrophe. Bismarck hat schon gewusst, warum er die Deutschen immer wieder vor der Konstellation des Dritten Schlesischen Krieges gewarnt hat und das Suchen nach Verbündeten zum Herzstück seiner Außenpolitik machte. Denn auch nach dem glücklichen Ausgang des Siebenjährigen Krieges war Preußen gefährdet wie kein anderer europäischer Staat. Es bleibt die historische Frage, ob Friedrich mit dem Rückgriff auf die reine Macht nicht das Lebensgesetz Preußens formulierte. Resultierte die Radikalität des Handelns Friedrichs aus der Ausnahmesituation eines Staates, für die es keine Parallele gab, so war eben diese Radikalität die Ursache für die dauernde Gefahr des Untergangs, in die er sich selbst und seinen Staat stürzte. Trotz des preußischen Klassizismus, der Humboldt’schen Reformen, des märkischen Arkadien und Fontanes Stechlin bleibt der Satz des Historikers Erdmann gültig, dass es keine preußische Idee gab, mit der dieser Staat – anders als Frankreich, England oder auch Spanien – in die Welt hätte hinauswirken wollen. Was man Preußen schließlich verzieh, solange es dauerte, hat man Deutschland nie verziehen. Friedrichs Legitimation war das Recht der aufsteigenden Macht, das Recht des Stärkeren. Auf eine fast naive Weise hat Gerhard Ritter, der Historiker Preußen-Deutschlands, dies belegt. Hieß es in der ersten Auflage seines Friedrich-Buches 1936 noch »Er (Friedrich) hat damit den Grund für die Größe Preußens gelegt; und so ist seine Tat vor der Geschichte gerechtfertigt«, so stand da 1954: »Er hat damit den Grund für die Größe Preußens gelegt; und solange dessen Aufstieg dauerte, konnte seine Tat als gerechtfertigt vor der Geschichte erscheinen.«
In der Friedrich-Verehrung bündelte sich das falsche Denken, wie es – exemplarisch für den Geist von 1914 – in Werner Sombarts Händler und Helden zutage tritt: »Militarismus ist der zum kriegerischen Geiste hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Partitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroika und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus.«
In Ernst Kantorowiczs Buch über einen anderen Friedrich II. kann man nachlesen, welche Bewunderung das gebildete Deutschland einer Herrscherpersönlichkeit entgegenbrachte, die, frei von moralischen Bedenken, jene Härte der Seele besaß, die zu großen Taten befähigte. Friedrich Meinecke hat später in seinem Buch über Die deutsche Katastrophe davon gesprochen, dass das geistige Klima in Deutschland in diesen Jahren geprägt gewesen sei von einer Offenheit und Nacktheit, von einer prinzipiellen Schärfe und Bewusstheit, der Freude an rücksichtslosen Konsequenzen und der Neigung, etwas zunächst doch Praktisches zu etwas Weltanschaulichem zu erheben.
Was sich zu Beginn des Jahrhunderts in der Abwehr der Ideen von 1789 zum ersten Mal gezeigt hatte, wird jetzt zur herrschenden Ideologie. Die Vorstellung von einem »Inneren Reich« und, damit verbunden, die Neigung zu Träumerei und verschwommenen Gefühlslagen begünstigten die Abwendung vom Westen und den fatalen Glauben an eine deutsche kulturelle Mission, an die Brückenfunktion zwischen West und Ost.
Der deutsche Kulturpessimismus betritt die Bühne und wendet das Gesicht des neuen Deutschlands nach Osten. Es ist heute kaum nachvollziehbar, dass ein wirres, in schlechtem Deutsch geschriebenes Buch über Rembrandt als Erzieher von Kritikern als »das bedeutendste Buch unseres Jahrhunderts« gepriesen wurde. Es findet sich in Julius Langbehns Machwerk wenig über Rembrandt, dafür werden alle Themen des deutschen Konservativismus angeschlagen: Ablehnung der zeitgenössischen Kultur, Verhöhnung der Vernunft und Furcht vor den Wissenschaften. Langbehn setzt nicht auf Reformen, sondern auf die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft. Modernität und Rationalismus sind verwerflich, nur ein neuer Primitivismus kann die elementaren menschlichen Leidenschaften freisetzen und eine neue germanische Gesellschaft schaffen, deren Grundlagen Kunst, Genialität und Macht sind. Wie Paul de Lagarde vor ihm und Oswald Spengler nach ihm formuliert Langbehn ein konservatives Krisenprogramm, das mit den konservativen Grundüberzeugungen vom Bewahren und Anpassen nichts mehr zu tun hat. Statt in konkreter Begrifflichkeit zu argumentieren, wird dem absolutistischen Erbe der französischen Aufklärung mit absolutistischer Gegenaufklärung begegnet.
Dem utopischen Entwurf einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen wird das Bild einer rassisch getönten Volksgemeinschaft entgegengesetzt. Nicht die Sicherung der Freiheit des Einzelnen durch Institutionen, sondern das Aufgehen des Individuums in der Schicksalsgemeinschaft Nation ist das Programm der Gegenrevolution.
In diesem Geist liest das deutsche Bürgertum die Philosophie Friedrich Nietzsches. Seine Kritik an neudeutschem Kulturphilistertum, Machtrausch, nationaler Überhebung und Rassenwahn verschwindet hinter dem Lob des Übermenschen. Seine Bewunderung für mediterrane Klarheit, die französischen Moralisten und die Musik Bizets passten nur schlecht zum radikalen Kulturpessimismus und spielten deshalb in der populären Nietzsche-Rezeption keine Rolle.
Herrenmenschentum und rücksichtslose Verachtung alles Schwachen hingegen ließen sich problemlos von ihren ästhetischen und philosophischen Voraussetzungen in Griechentum und Renaissance lösen und zur Herrenmoral einer neuen deutschen Elite stilisieren. So endet in der Verherrlichung der Barbarei, was als Kampf gegen die akademische Orthodoxie einer lebensfeindlichen Wissenschaftskultur begann. Novalis hat diese in Nietzsche triumphierende Geisteshaltung am treffendsten kritisiert: »Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlicheren Nebenbuhler als das Ideal der höchsten Stärke, des kräftigsten Lebens, was man auch das Ideal der ästhetischen Größe benannt hat. Es ist das Maximum des Barbaren und hat leider in diesen Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größten Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird durch dieses Ideal zum Tier-Geiste – eine Vermischung, deren brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwächlinge hat.« Und so resümiert Gottfried Benn bewundernd die Machtergreifung: »Heimkehr der Asen, weiße Erde von Thüle bis Avalon, imperiale Symbole darauf: Fackeln und Äxte und die Züchtung der Überrassen, der solaren Eliten, für eine halb magische und halb dorische Welt. Unendliche Fernen, die sich füllen! Nicht Kunst, Ritual wird um die Fackeln, um die Feuer stehen.«
Vom zwiespältigen Bürgerbewusstsein der wilhelminischen Zeit war nach dem verlorenen Weltkrieg nur noch der Hass auf die westliche Zivilisation geblieben: »Der Westen ist Deutschlands Tod: die Rettung erfordert sich loszulösen von allem, was aus dem Westen kommt und was westlich ist. Alle westlichen Elemente, die Deutschland selbst in sich trägt, sind Spione, Soldaten, Advokaten und Missionäre der westlichen Mächte. Weil es um Sein oder Nichtsein geht, bleibt Deutschland, wenn es sich selbst erhalten will, das schwerste nicht erspart: die Bartholomäusnacht und Sizilianische Vesper gegen alles, was an Westlichem in ihm lebt. Mit grausamer Härte muss es in sich selbst ausrotten, was in ihm dem Westen verbündet ist, dem Westen Zuträgerdienste anbietet, dem Westen Vorschub leistet. Das Bürgerlich-liberale ist unter den heutigen Weltverhältnissen für Deutschland ›Feind im Land‹; es ist die Romanisierungs-, Zivilisations-, Urbanisierungs-, Verwestlichungs- und Entdeutschungsform des deutschen Menschen. Je mehr einer Bürger ist, desto weniger ist er Deutscher.«
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