Als wir ihr Büro erreichen, das kaum größer als ein Wandschrank ist, bedeutet sie mir, mich auf einen der orangenen Plastikstühle vor ihrem Schreibtisch zu setzen.
Mr. Smith schließt die Tür hinter uns und klopft mir anschließend doch tatsächlich auf die Schulter, was mich zusammenzucken lässt. Ich schaue erschrocken zu ihm hoch.
„Wir haben schlimme Nachrichten für dich, Sohn“, sagt er und blickt traurig drein. „Deine Großmutter ist dahingeschieden. Sie weilt nicht länger unter uns.“
Mein Mund klappt auf. Ich fühle mich… seltsam. Hauptsächlich denke ich: von allen Dingen, die er hätte sagen können, habe ich damit nicht gerechnet.
„Sie meinen… sie ist tot?“, bringe ich irgendwie hervor.
Mr. Smith wirft Ms. Song einen Blick zu, dann nickt er. „Ich fürchte, so ist es, ja. Einer eurer Nachbarn hat sie gefunden. Sieht nach einem Herzinfarkt aus.“
Ich sacke leicht zusammen. „Was… was bedeutet das für uns? Mich und meine kleinen Brüder, meine ich. Warum… ich meine… wohin werde ich nach der Schule gehen?“
Meine Stimme bricht beim letzten Wort. Das Einzige, das ich vor Augen habe, ist, dass ich durch die Tür zu Grandma Janes Haus laufen werde und sie nicht dort sein wird.
Fuck.
„Nun, wir haben das Kinder- und Jugendamt kontaktiert“, sagt Ms. Song, die zu mir kommt, um mir ihre Hand auf die Schulter zu legen.
„Was? Warum?“, frage ich benommen.
„Sie werden einen guten Platz für dich finden, wo du heute Nacht bleiben kannst. Und dann werden sie dir helfen, herauszufinden, wie die nächsten Schritte aussehen werden“, erklärt Mr. Smith.
Ich schaue zu ihm, während meine Augen feucht zu werden beginnen. „Sind das die Pflegefamilien-Leute?“
Ich weiß alles über Pflegefamilien. Damals, als meine Mom uns verließ und bis meine Grandma kam, waren wir drei einige Wochen bei Pflegefamilien untergebracht. Jeder von uns in einer anderen Familie.
„Ja, genau“, bestätigt Mr. Smith.
„Mit denen gehe ich nicht mit“, widerspreche ich und werde wütend. Meine Tränen laufen über und rinnen langsam über mein Gesicht. „Sie werden mich bestimmt nicht mit meinen Brüdern zusammentun.“
„Wir sollten uns einfach mal anhören, was sie sagen“, mischt sich Ms. Song ein. „Sie wissen, was das Beste ist, da bin ich mir sicher.“
Ich kann meine Brüder jetzt vor mir sehen. Ich kann Forest sehen, wie ihm von Grandma Jane erzählt wird. Gunnar, dem erklärt wird, dass wir in unterschiedlichen Pflegefamilien untergebracht werden.
Gunnar ist so jung, er wird sich nicht einmal an mich erinnern und Forest nach ein paar Monaten auch nicht mehr.
Ich balle die Fäuste und stehe so plötzlich auf, dass mein Stuhl nach hinten kippt.
„Oh, Jameson –“, sagt Ms. Song.
„Immer mit der Ruhe, Sohn.“ Mr. Smith packt mich am Arm. „Du wirst hier noch eine Weile warten müssen. Die Leute von der Behörde sollten bald hier sein.“
Tränen strömen mir jetzt übers Gesicht, Rotz blubbert aus meiner Nase. „Nein, Sie verstehen nicht! Ich kann nicht in eine Pflegefamilie gehen! Meine Brüder müssen bei mir bleiben!“
„Sohn –
„Verdammte Scheiße! Nennen Sie mich nicht so!“, brülle ich. Trotz seines Alters ist Mr. Smith immer noch stärker als ich. Es gelingt ihm, seine Arme um mich zu schlingen und mich tiefer in das Büro zu zerren.
„Es ist okay“, sagt er.
„Nein, das ist es nicht! Sie haben mir gerade verdammt nochmal gesagt, dass meine Grandma gestorben ist!“
Ich bin hysterisch, kratze nach ihm, kralle meine Hände in sein rosa und graues Hemd, aber er lässt nicht los. Stattdessen sagt er mir immer wieder, dass alles okay ist.
Aber ich weiß, dass es das nicht ist.
Nichts ist okay.
Meine Grandma ist tot. Meine kleinen Brüder wissen es wahrscheinlich noch nicht einmal, aber ihr Tod markiert einen Wendepunkt in unserem Leben. Ich weiß, dass das Kinder- und Jugendamt vermutlich versuchen wird, meine Brüder und mich in getrennte Pflegefamilien zu zwingen.
Ich mache mir jetzt schon Gedanken über die Einzelheiten einer Flucht und wie ich mich durchschlagen kann. Nicht nur ich, sondern mit meinen zwei kleinen Brüdern. Das Leben hat uns schon genug genommen, ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass uns irgendjemand trennt.
Also nein, nichts ist okay. Und ich weiß nicht, ob es das jemals wieder sein wird.
Prolog 2
Vor einem Jahr – Ashers Verlobungsfeier
„Und deswegen spreche ich hier auf der Verlobungsfeier einen Toast aus. Auf das glückliche Paar!“, brüllt Gunnar der versammelten Menge zu, die an der Bar steht. Ich stehe den Arm um meine Verlobte Jenna gelegt da und lächle. Mein Lächeln ist nicht aufgesetzt, aber angestrengt. Es ist immer ein bisschen komisch, derjenige zu sein, auf den getrunken wird. „Auf das ihr zwei ein langes und glückliches Leben führen werdet.“
Alle sagen „hört, hört!“ oder „Cheers!“ und heben ihre Gläser. Ich hebe mein Champagnerglas und stelle Augenkontakt mit Jameson her, der in der Ecke schmollt. Er sieht in seinen dunklen Jeans und Lederjacke groß und düster aus, was irgendwie sein Ding ist.
Cece, Jamesons schäbige Surferflamme der Woche, leert ihr gesamtes Champagnerglas in einem Zug. Ich persönlich kann dem Typ Wasserstoffblondine, muss-ich-hier-Schuhe-anziehen nichts abgewinnen, aber jedem das Seine, schätze ich.
Er neigt den Kopf in meine Richtung und nippt an seinem Glas. Jameson hat sich wegen meiner Verlobung mit Jenna wie ein richtiger Scheißkerl aufgeführt. Daher ist die Tatsache, dass er heute Abend überhaupt eingeladen wurde, ein Geschenk von mir an ihn.
Ich nippe an meinem Champagner und wende mich von ihm ab. Mir ist unwohl dabei, diese Gefühle bezüglich Jameson zu hegen, der seit unserer Kindheit mein bester Freund ist.
„Schatz“, sagt Jenna, die mir ihr Champagnerglas reicht. Sie zupft einen kleinen unsichtbaren Fussel von meinem weißen Hemd und lächelt. „Kannst du mir noch ein Glas holen?“
„Klar. Ich könnte sowieso etwas Stärkeres vertragen.“
„Achte nur darauf, dass du dich nicht betrinkst.“ Sie streicht ihr schwarzes Minikleid glatt und wirft ihre blonden Haare nach hinten. „Ich möchte schließlich nicht, dass die Leute einen falschen Eindruck von dir bekommen.“
„Gott bewahre“, sage ich und verdrehe die Augen.
„Ich meine es ernst! Es sind heute Abend eine Menge Leute hier, nicht nur deine schmuddeligen Freunde.“
Ich fühle mich leicht angegriffen, aber nach einem Blick zu Jameson und seiner Freundin kann ich schwer etwas Gegenteiliges sagen. Sie machen jetzt miteinander rum, wobei Cece ihre Faust in seine Lederjacke gekrallt hat und ihn zu sich nach unten zieht. Schon bald werden sie eine Weile von der Party verschwinden, wahrscheinlich um in irgendeinem Wandschrank eine Nummer zu schieben.
Ich blicke zu Jenna, die sich abgewandt hat. Diesbezüglich bin ich beinahe neidisch auf Jameson. Jenna ist an ihren besten Tagen eine Eisprinzessin. Aber sie stammt zufälligerweise auch aus einer Familie, die noch wohlhabender ist als meine, und meine Familie hat Geld.
Die Tatsache, dass ich Jenna erbeutet habe, und das ohne ihre Hilfe, lässt meine Mutter und Vater nachts vermutlich keinen Schlaf finden. Das allein ist, meiner Meinung nach, schon zehn Ceces wert.
Ich drehe mich um und gehe zur Bar. Der Barkeeper geht, um meine Drinks zu holen, und ich bin beeindruckt davon, wie effizient er sich bewegt. Natürlich tut er das , denke ich. Jameson hat diesen Laden ausgesucht. Abgesehen vom Surfen ist die Arbeit als Barkeeper wahrscheinlich die einzige Leidenschaft, die Jameson hat.
Nun, das und schäbige ehemalige Stripperinnen.
Dennoch, als ich die ordentlich aufgereihten Alkoholflaschen betrachte und die Barkeeper, die ihrem Job geflissentlich nachgehen, stelle ich fest, dass ich neidisch bin. Wenn ich irgendetwas über Alkohol wüsste, würde ich in Nullkommanichts eine Bar eröffnen.
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