Nachdem sie oben auf dem Dach gewesen war, hatte er sie wieder ins Bett gebracht, wo sie sofort einschlief, doch als sie dann um halb vier wieder aufwachte, war sie zu ihm gekommen und hatte ihm von einem weiteren schlechten Traum erzählt. Ein dunkles, schemenhaftes Monster hatte Tyler vor ihren Augen in Stücke zerrissen. Immer dasselbe, böse Mächte trennten sie beide voneinander. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, woher das kam. Tyler hatte seine Bettdecke angehoben, und sie war zu ihm gekrochen, mitsamt Panda, und nach wenigen Minuten schlief sie wieder ein, während er ihren Kopf streichelte. Es war ihm viel zu warm mit ihr so dicht neben sich, also schob er die Decke fort, war innerlich völlig außer sich und grübelte über alles nach. So blieb es, während der Himmel draußen heller wurde, und nun war’s Zeit zum Aufstehen.
»Aufwachen«, sagte er und rieb Beans Nase. »Du musst dich für die Schule fertig machen.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Du bist hier.«
»Wo sollte ich denn sonst sein?«
Er stand auf, zog eine schwarze Hose an und die Vorhänge zurück. Es war ein wolkenloser Morgen, die Sonne am Osthimmel bereits auf halber Höhe. Er war froh, dass sich sein Zimmer auf der Rückseite der Wohnung befand, bedeutete das doch, dass er von hier aus das Krankenhaus nicht sehen konnte.
Er hatte auf seinem Telefon die Nummer der Notaufnahme herausgesucht, als er vorhin noch im Bett lag, und sein Daumen schwebte über dem Anrufen-Button. Aber wie sollte das laufen? Er kannte ihren Namen nicht. Und wenn er sie beschrieb, belastete er sich selbst.
Bean stand auf, rieb sich ein Auge, schleifte Panda an einem Ohr mit.
Tyler lächelte. »Deine Schuluniform wartet auf dich in deinem Zimmer.«
»Kannst du mir mit der Strumpfhose helfen?«
Er stöhnte übertrieben. »Na schön, aber du bist eine große Siebenjährige, und du solltest das auch allein können.«
Er hasste es, ihr bei der Strumpfhose zu helfen. Er konnte machen, was er wollte, nie war es bequem, nie war’s so ganz richtig, und sie veranstaltete immer ein albernes Tänzchen, wenn sie sie hochzog und dann wieder aus der Poritze zupfen musste.
Er zog den Rest seiner Klamotten an, dann half er ihr, und schließlich gingen sie zusammen ins Wohnzimmer und zur Kochnische. Angela war nicht da, also hatte sie es irgendwie ins Bett geschafft. Tyler war froh. Sie so zu sehen, war nicht gut für Bean, egal wie viel Bockmist er ihr darüber erzählte, dass Mum sich nicht gut fühlte. Sie war ein kluges Mädchen und wusste genau, was los war. Wenn man hier aufwuchs, wurde man entweder schnell erwachsen oder abgehängt. Drogensüchtige und gewalttätige Eltern gab es in diesem Viertel überall, drei Generationen kaputter und ausrangierter Loser von vorne bis hinten. Über die Hälfte der Kids in Beans Klasse hatten nur einen Elternteil, und die Hälfte von denen wiederum galt als gefährdet.
Tyler dachte an die Frau auf dem Boden, an ihr Kind. Das Zimmer ihres Sohnes war voller Teenager-Kram. Wie viel einfacher war das Leben für sie, weil sie Geld hatten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sich diese Frau vor den Augen ihres Sohnes einen Schuss setzte, so wie es Angela jahrelang vor seinen Augen getan hatte. Er hatte so oft versucht, ihr zu helfen. Aber ab einem bestimmten Punkt mussten die Leute selbst Verantwortung für sich übernehmen, oder? Er konnte keine Zeit mehr für seine Mutter verplempern, er musste dafür sorgen, dass Bean behütet war, dass sie unversehrt in die Schule und zurückkam. Und dass sie so weit wie möglich von den beiden nebenan ferngehalten wurde.
Er holte eine Packung Aldi-Shreddies aus dem Schrank, roch an der Milch aus dem Kühlschrank. Fand eine saubere Schale und wusch an der Spüle einen Löffel ab, stellte dann alles auf die Frühstücksbar. Bean hatte den Fernseher angemacht und er ließ sie Zeichentrickfilme sehen, während sie geräuschvoll mampfte und schlürfte. Sich selbst machte er Toast, klaubte ein paar Schimmelstellen von der Kruste und schnipste sie in den Mülleimer. Er packte seine und Beans Schultasche. Sie bekam Gratis-Mittagessen, das war also schon mal was. Er erinnerte sich wieder an das Geld in seiner Hose und berührte den Rand der Scheine. Das war der sicherste Platz dafür. Wenn Barry herausfand, dass er sich was einsteckte, setzte es wieder Prügel.
Im Fernsehen lief jetzt eine Sendung, in der ein Zeichentrickjunge im Haus einer echten Familie wohnte. Aus irgendeinem Grund waren es Nordiren. Er brachte sie immer irgendwie in Schwierigkeiten, aber am Ende der zehnminütigen Sendung war alles wieder gut, die glückliche und liebevolle Familie, Mum, Dad und Schwester, umarmte ihn heftig. Tyler war froh, dass es in Beans Leben so was gab, denn da hatte sie wenigstens ein echtes Ziel für ihr Erwachsenenleben statt all der Scheiße um sie herum.
»Können wir noch zu Snook und den Babys?«, fragte Bean mit Milch auf dem Kinn.
Tyler verzog das Gesicht und sah auf die Uhr. »Wenn du dir ganz schnell die Zähne putzt.«
Sie sprang vom Hocker und flitzte ins Bad.
Er legte ihre Schale, den Löffel und sein Messer ins Abwaschbecken, spülte alles ab und stellte es aufs Abtropfbrett. Er holte etwas zu essen für Snook aus dem Schrank und verstaute es in seiner Schultasche.
Er drehte sich um und starrte das Kopfkissen und den Bettbezug mit der Beute an, die immer noch auf einem Haufen in der Ecke des Zimmers lagen. Bean hatte nicht danach gefragt. Ihm fiel die Polaroidkamera von dem ersten Bruch des Vorabends ein und er nahm sie heraus.
»Fertig«, rief Bean von der Tür her. Ihre Uniform war schmuddelig, die Strumpfhose ziemlich dünn an den Knien, und er wusste, dass sich zwischen den Beinen ein kleines Loch befand, das man jedoch nur dann sehen konnte, wenn sie ein Rad schlug. Der Pullover mit dem Schulwappen drauf war beim Schulflohmarkt geklaut, ein gebrauchtes Kleidungsstück.
»Komm her«, sagte Tyler. »Dreh dich um.«
Er nahm ihr Haargummi heraus, zog es mehrere Male über seine Finger und band die Haare ordentlicher zusammen.
»Sieh mal hier«, sagte er und zeigte ihr die Polaroid.
»Was ist das?« Sie drehte den Fotoapparat in ihren Händen, ließ die Finger über Schalter und Knöpfe gleiten.
»Eine Kamera.«
»Wie an deinem Telefon?«
»Nicht ganz. Pass auf.« Er öffnete eine Filmpackung, lud die Kamera und richtete diese auf sie.
»Und einmal lächeln, bitte.«
Sie machte einen Schmollmund und mit den Fingern ein Peace-Zeichen. Die Kamera blitzte und surrte, dann spuckte sie das Bild aus. Sie nahm es ihm ab.
»Da ist ja nichts drauf«, sagte sie und starrte auf das weiße Quadrat.
»Warte.«
Langsam erschien ihr Gesicht, und sie hob die Augenbrauen.
»Wow«, sagte sie. »Kann ich die mit in die Schule nehmen?«
»Klar, aber verplemper den Film nicht. Ist nicht so wie digital. Wenn der Film alle ist, dann war’s das. Mach was draus, jede Aufnahme ist einzigartig.«
»Komm, wir machen ein Selfie«, sagte sie.
Er verdrehte die Augen, beugte sich aber dennoch dicht zu ihr, hielt die Kamera in der ausgestreckten Hand und drückte auf den Auslöser. Blitz und Surren. Er hielt das Foto, bis das Bild auftauchte, zwei lächelnde Gesichter, ein für immer eingefangener Moment. Er gab ihr die Aufnahme, doch sie schüttelte den Kopf.
»Behalt du das«, sagte sie. »Damit du mich nicht vergisst, während ich in der Schule bin.«
Er starrte das Bild an, während sie die Kamera in ihrer Tasche verstaute.
»Komm, gehen wir«, sagte sie. »Ich will die Kleinen sehen.«
Tyler schob das Foto in seine Tasche und schaltete den Fernseher aus, dann schnappte er sich beide Schultaschen und begleitete sie aus der Tür, während er die ganze Zeit daran dachte, wie sich die Hand der Frau hob und dann wieder auf den lackierten Parkettboden fiel.
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