Im Elternschlafzimmer nicht anders. Es war schon eine ganze Weile nicht mehr benutzt worden, aber im Schrank hingen Kleider, auf den Regalböden eines Schranks eine ganze Kollektion Stöckelschuhe. Im Bad standen einige Flaschen auf dem Badewannenrand, aber es gab keine Seifenkleckse, keine feuchten Handtücher, die Kacheln vollkommen trocken. Fast war es wie ein Musterhaus, hier und da ein paar wenige persönliche Dinge, platziert, um dem Haus so etwas wie Charakter zu geben. Oder wie eine Airbnb-Wohnung, in der während der Festivalsaison eine reiche Familie wohnte, die überteuerte Theater- und Comedyvorstellungen besuchte.
Die Mansardenzimmer genauso. Kleine eiserne Kaminöfen, Wollmäuse unter den Betten, der Blick aus den höheren Fenstern hinaus auf den Garten. Durch das Laub sah er einen Kastenwagen der British Telecom, Arbeiter standen um ein Loch in der Straße. Er schaute einen Moment zu, dann ging er zwei Treppen nach unten, ließ dabei die Hand über das Geländer streichen, verschwendete keinen Gedanken an Fingerabdrücke. Kein Mensch suchte nach Fingerabdrücken, wenn man nicht mal wusste, dass überhaupt eingebrochen worden war.
Im Erdgeschoss fand er verschiedene persönliche Dinge. Eine Sammlung Vinylschallplatten mit klassischer Musik neben einem Linn-Plattenspieler. Er ging die Scheiben durch, die alphabetisch sortiert waren, und zog eine heraus. Erik Satie. Er nahm sie aus der Hülle und legte sie auf den Plattenspieler. Schaltete die Maschine ein, es ploppte und summte, dann senkte er die Nadel auf die Schallplatte. Der warme Klang der Musik erfüllte den Raum. Langsames Klavier, melancholisch, viel Stille. Er spürte, wie sich seine Atmung und der Herzschlag verlangsamten, während er im Raum umherwanderte. Auf dem Kaminsims gerahmte Familienfotos. Mum, Dad, zwei Söhne. Der Dad sah militärisch aus, kräftige breite Schultern, Oberschicht, Offiziersmaterial. Die Frau war schön auf eine knochige Art, scharfe Gesichtszüge und leere Augen. Sie lächelte, aber es lag keinerlei Wärme darin. Die beiden Jungs waren untersetzte Teenager, der eine etwas älter als Tyler, und sie versuchten, Daddy nachzueifern, die Brust gereckt, das Kinn gehoben, dieselbe Anspruchshaltung.
Tyler ging zur Haustür und hob die Post vor dem Briefschlitz auf. Der Anzahl der Briefe nach war seit Wochen niemand im Haus gewesen. Aber sie bekamen immer noch Rechnungen geschickt, also war es das Familienhaus. Fotheringham, Jason und Charlotte.
Er legte die Post zurück und ging in die Küche. Schwarzer Schieferboden, verchromte Armaturen, eine lange Frühstückstheke aus irgendeinem weißen Stein. Er ging zum Kühlschrank, nahezu leer. Sie hatten offenbar in nächster Zeit nicht vor, sich einen Snack zu machen. Im Eisfach selbst gekochtes Zeug in Tupperdosen – Lasagne, Pollo Cacciatore, Wildgulasch. »Ben & Jerry’s Cookie Dough«-Eiscreme und eine Flasche Grey-Goose-Wodka. In den Schränken fand er Kekse und Chips, Thunfischdosen und Kidneybohnen. Er nahm ein KitKat und wickelte es aus, dann hörte er den Krach von zersplitterndem Glas.
Er hörte auf zu kauen und lauschte.
Die Klaviermusik lief immer noch in dem anderen Zimmer.
Er ging zur Küchentür und sah in den Flur, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
Ein weiteres Krachen. Mehr Glas, ein dumpfer Schlag aus dem Wohnzimmer.
»Kackenscheiß.«
Er sah die Treppe hinauf. Er hatte voll freie Bahn von hier aus, konnte in einem halben Dutzend Sprüngen die Treppe hinauf sein, durch das Fenster oben im Flur, und kein Mensch kriegte was davon mit.
Aber irgendwas war mit dieser Stimme.
Er starrte zur Wohnzimmertür, durch die Klaviermusik herausperlte. Jemand ächzte.
Den KitKat-Riegel in der Hand ging er zur Tür.
Ein Fenster war eingeschlagen, Glassplitter lagen über den Läufer verteilt, mittendrin ein glatter Stein aus dem Garten. Das Fenster war geöffnet und hochgeschoben worden, und ein Mädchen in einem roten Schulblazer kletterte herein, hielt dabei die Handfläche der einen Hand in der anderen.
»Scheiße.«
Sie war schlank und knochig, ein paar Zentimeter größer als er, ungefähr das gleiche Alter. Unter dem Blazer trug sie eine weiße Bluse, einen knielangen marineblauen Rock und eine marineblaue Strumpfhose, dazu flache schwarze Schuhe. Ihr rotblondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als sie sich aufrichtete, fielen Tyler ihre Gesichtszüge auf, eine spitze Nase und grüne Augen, markante Wangenknochen und scharf geschnittene Kieferpartie, ein schmaler Mund.
Sie drehte sich um. Mit Überraschung in den Augen wanderte ihr Blick von seinem Gesicht zu dem KitKat, dann von oben bis unten über seine Uniform.
»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie.
»Das hab ich mich auch gerade gefragt.«
»Das ist nicht dein Haus.«
Tyler dachte an die Familienfotos der Fotheringhams. »Dito.«
»Du bist widerrechtlich hier eingedrungen.«
»Gleichfalls.«
Sie seufzte. »Wir könnten den ganzen Tag so weitermachen.«
Sie senkte den Blick auf ihre Hand und Tyler sah, dass Blut auf den Läufer tropfte, dasselbe Rot wie ihr Blazer.
»Wer immer du bist – weißt du, wo ich hier ein Pflaster oder so was finde?«, fragte sie.
Tyler drehte sich um. »Hier lang.«
Er ließ an der Küchenspüle das kalte Wasser laufen und sah über seine Schulter zurück. Sie war ihm gefolgt, eine Spur von Blutstropfen zog sich hinter ihr über den Boden. Sie kam näher, die Augen zusammengekniffen, starrte ihn an.
»Halt sie unter Wasser«, sagte er.
Das machte sie und zuckte sofort zusammen, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Er sah zu, wie das rosa Wasser in einem Strudel im Ausguss verschwand. Er fragte sich, wo er in einem so großen Haus einen Verbandkasten aufbewahren würde. Er ging zu einem Abstellraum an einer Seite der Küche, darin Waschmaschine und Trockner, ausgelagerte Winterjacken und Stiefel. In der zweiten Schublade fand er einen Schnellverschlussbeutel mit einem Kreuz darauf, gefüllt mit Pflaster und Antiseptikum, Zeugs gegen Insektenstiche, eine Rolle Verbandmull und eine Schere. Damit kehrte er in die Küche zurück, warf den Beutel aufs Abtropfbrett und hielt ihr ein Geschirrtuch hin.
»Lass mal sehen.«
Sie hob die Hand. Die Schnittwunde über ihrem Handballen war ungefähr drei Zentimeter lang, aber nicht tief, und das Blut quoll auf der gesamten Länge hervor, während sie zuschauten. Nur ein Stück weiter unten und es hätte ihr Handgelenk erwischt, quer über die Vene.
Er spürte, dass sie ihn beobachtete, spürte, wie er einen roten Kopf bekam.
»Darf ich?«, fragte er.
Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er tupfte sie vorsichtig mit dem Geschirrtuch ab. Es fühlte sich komisch an, wie ein religiöses Ritual.
»Ich glaube, es ist jetzt trocken«, sagte sie schließlich, und sein Gesicht fühlte sich noch heißer an.
Er ließ das Geschirrtuch fallen, gab etwas Antiseptikum auf einen Wattebausch und ergriff ihr Handgelenk. Er hatte bei Bean schon so viele kleine Wunden versorgt, dass er genau wusste, was er tat.
»Das wird jetzt brennen.« Er tupfte.
»Oh verdammt!« Sie zuckte zusammen und zog ihre Hand zurück. Einen kurzen Augenblick berührten sich ihre Finger, dann hielt sie ihm wieder die Hand hin. Er tupfte sie ab, während sie scharf ein- und schwer ausatmete.
»Meinst du, es muss genäht werden?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ist nicht tief.«
Er maß ein Stück Verbandmull ab, schnitt es zurecht und legte den Anfang in die Beuge ihres Daumens. »Halt das fest.«
Sie drückte einen Finger darauf. Er wickelte den Verband über den Handrücken und dann über den Schnitt, einmal ums Handgelenk und wieder hoch, prüfte dabei immer wieder, ob es stramm genug saß. Er fand eine kleine Sicherheitsnadel und fixierte den Verband.
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