Sie umrundeten das Baugelände und gelangten zu einem einzelnen, verfallenen Haus. Bean hielt Tylers Hand und sang die Titelmelodie der letzten Fernsehsendung. Als alle anderen Häuser abgerissen worden waren, hatte man aus irgendeinem Grund dieses eine stehen lassen, aber schließlich zogen auch dessen Bewohner aus, und jetzt war es praktisch nur noch eine Betonfassade mit einem zerfallenden Dach, umgeben von Brachland.
Sie gingen auf die Rückseite zu einem der zugenagelten Fenster, wo die Bretter locker waren. Aus Gewohnheit sah Tyler sich um. Nur die Neubauten von Sandilands Close am Horizont, das Krankenhaus, weiter südlich Bürogebäude. Jemand ging mit seinem Hund auf halber Höhe des Craigmillar Hill spazieren. Er war immer in Sorge, dass sich Junkies in diesem Haus einnisteten. Er zog das Brett vom Fensterrahmen, warf einen Blick ins Innere und hörte leises Winseln. Er hob Bean durch den Spalt, achtete darauf, dass sie nicht mit der Uniform an einem der Glassplitter des Fensterrahmens hängen blieb. Er kletterte nach ihr hinein und wartete einen Moment, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
»Snook.« Bean lief zu dem Mischling auf der Matratze. Sie war halb Collie, halb irgendwas anderes, hatte ein schwarz-weißes Fell, ein eingerissenes Ohr, das rechte Auge blutig unterlaufen. Ihr Schwanz klopfte auf den Rand der Matratze, als Bean ihre Ohren wuschelte und dafür im Gesicht abgeleckt wurde. Um Snooks Zitzen herum schnüffelten drei schlaftrunkene Welpen.
Sie hatten sie vor einer Woche auf dem Heimweg nach der Schule gefunden, als sie gerade die Kleinen zur Welt brachte. Sie lag keuchend und leise jaulend unter einem Strauch am Straßenrand. Bean hatte gefragt, was da gerade passierte, und Tyler hatte versucht, es ihr zu erklären. Er hatte gesagt, sie solle das Tier beruhigen, und Bean hatte sich voll in diese Aufgabe gestürzt, hatte einen endlosen Strom von rührseligem Kauderwelsch geflüstert, der Hündin Ohren und Nase gestreichelt, sie verhätschelt, als gehörten sie alle zu einem Rudel. Als der erste Welpe herauszukommen begann, sah Bean mit riesengroßen Augen zu. Ihre Hand blieb auf der Schnauze des Hundes liegen. Snook winselte und begann, Beans Hand zu lecken, und sofort setzte sie das Streicheln fort, redete ihr weiter ins Ohr, behielt diesmal jedoch den Blick fest aufs Hinterteil gerichtet, hob die Augenbrauen, als der erste Welpe herausglitt und ein zweiter folgte. Tyler legte den ersten dicht neben die Schnauze seiner Mum, und Snook bewegte ihren Kopf fort von Bean und fing an, den Welpen abzulecken.
Zehn Minuten später waren es alles in allem drei pelzige kleine Dinger, die saugende Geräusche von sich gaben und sich wanden. Es fing an zu regnen. Tyler zog die Jacke aus und packte die Welpen hinein, band die Ärmel zusammen und gab sie Bean.
»Sei vorsichtig.«
Er hatte Snook auf den Arm genommen, und dann joggten sie den Hang hinunter. Tyler wollte sie eigentlich mit in die Wohnung nehmen, musste dann aber an Barry denken. Der Himmel allein wusste, was er mit drei neugeborenen Welpen und einer erschöpften Mutter machen würde. Schon schlimm genug, wie er seine eigenen Hunde behandelte.
Also blieb Tyler vor dem Haus stehen, in dem sie sich jetzt befanden, fand auf der Rückseite einen Weg hinein und quartierte Snook und die Welpen dort ein. Bei nachfolgenden Besuchen hatten sie alles Nötige für die Hunde mitgebracht: eine alte Matratze von der Straße als Schlafplatz, Eiscremebehälter aus Plastik als Schalen für Futter und Wasser. Tyler gefiel, wie einfach es war. Essen, Unterschlupf und eine Mum, die sich um einen kümmerte, mehr brauchte man nicht, um am Leben zu bleiben.
Er betrachtete Bean, die jetzt mit den Welpen spielte. Er hatte hier keinen langfristigen Plan, keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie älter wurden. Für immer konnten sie hier nicht bleiben, aber vorläufig reichte es aus. Es war ein gutes Gefühl, so als hätte man alles voll im Griff und unter Kontrolle.
Er leerte Hundefutter in die Schale und füllte auch Wasser aus dem Hahn im Bad nach. Aus irgendeinem Grund war das Wasser nie abgestellt worden. Bei seiner Rückkehr stocherte Snook im Futter herum, und die Welpen winselten, als sie sie aus dem Weg schubste.
Tyler sah auf seine Uhr.
»Wir müssen los.«
»Oooch …«
»Wir können ja nach der Schule noch mal kurz reinschauen.«
»Wann können wir mit ihnen spazieren gehen?«
»Hab ich dir doch gesagt: Die Welpen sind noch zu klein. Und ihre Mummy können wir ihnen auch nicht wegnehmen.«
Bean dachte darüber nach. Dieses Mutter-und-Babys-Ding weckte alle möglichen Gedanken in ihrem Kopf, und das gefiel Tyler gar nicht. Er wollte sie einfach nur rechtzeitig in die Schule bekommen, dann wieder nach Hause, dann morgen früh dasselbe und am nächsten Tag wieder.
»Verabschiede dich«, sagte er.
Bean fasste Snooks Hals an, dann hob sie nacheinander jeden Welpen hoch und knuddelte ihn. Tyler verdrehte die Augen. Bean nahm die Polaroid aus der Tasche, richtete sie auf die Hunde. Es blitzte. Sie strahlte zuerst Tyler an, dann die Aufnahme, verstaute schließlich alles in ihrer Tasche.
»Wir sehen uns nach der Schule«, sagte Bean zu den Hunden. »Passt gut auf euch auf!«
Die Craigmillar Primary war ein Backsteinneubau, gesichert durch Überwachungskameras und einen mit Spitzen versehenen Zaun. Die Grundschule war im Zuge des PPP-Skandals vor einem Jahr geschlossen worden, nachdem eine Mauer in einer ähnlichen Schule am anderen Ende der Stadt eingestürzt war, allerdings hatte man hier keine Mängel finden können, weswegen die Schule wieder geöffnet wurde. Sie war erheblich besser als das verfallende Dreckloch, das Tyler ein paar Jahre zuvor besucht hatte, und hundertmal netter als die benachbarte Bruchbude der Castlemound High, auf die er jetzt ging.
Bean ließ seine Hand los, als sie durchs Tor kamen, und rannte zu Isla und Aisha, die sich gegenseitig ihre JoJo-Siwa-Haarschleifen zeigten. Bean war schon seit Ewigkeiten scharf auf eine, aber die Dinger kosteten neun Tacken das Stück. Vielleicht sollte er ihr eine von dem Geld besorgen, das er am Abend zuvor abgezweigt hatte, aber er wusste nie, wie viel Zeit zwischen Zahltagen lag, also hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er Geld für Luxussachen ausgab statt für Essen und Strom. Und jetzt musste er obendrein auch noch Hundefutter kaufen.
Für ihre Freundinnen hieß Bean Bethany, nur zu Hause wurde sie Bean genannt. Tyler konnte sich nicht erinnern, wie das angefangen hatte, hoffte aber, dass es nicht Barrys Idee gewesen war, von dem nie was Gutes kam. Vielleicht weil sie so klein war, ganze fünfzehn Zentimeter kleiner als Isla und Aisha.
Die Glocke ertönte und Bean und ihre Freundinnen schlenderten zu der Schlange wartender Schulkinder hinüber. Tyler blieb zurück bei den Mums. Manche von denen waren nicht viel älter als er selbst, was bedeutete, sie hatten ihre Kinder bekommen, als sie selbst noch zur Schule gingen. Tyler wartete, ob Bean noch einmal herübersah, als Miss Kelvin sie hereinrief, aber sie quatschte mit Aisha und war völlig in ihrer eigenen Welt versunken.
Er ging, vermied jeden Blickkontakt mit Miss Kelvin und den Mums, dann trat er durchs Tor und bog nach links, in die entgegengesetzte Richtung zur Highschool. Er ging den Niddrie Farm Grove hinunter, vorbei an den rot-weißen Reihenhäusern und der Arztpraxis, und kam an der Bushaltestelle heraus. Er wartete einige Minuten, dann sprang er in einen 30er Bus, in dem er seinen gefälschten Ausweis an das Fahrkartendings drückte. Er hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem Bruch mitgehen lassen und sein eigenes Foto über das des eigentlichen Besitzers geklebt. Martin Lawrence. Das Ding war nicht für ungültig erklärt worden, daher funktionierte es immer noch. Das Computersystem von Lothian Buses hatte ganz offensichtlich Lücken. Die Leute denken immer, Sicherheitssysteme seien dazu da, sie zu schützen, aber in neun von zehn Fällen funktionieren sie ganz einfach nicht. Es sind besondere Berechtigungen erforderlich, um sie miteinander zu vernetzen, damit sie kommunizieren, und wer hat schon Zeit für so was? Über jedem schwebt das Fallbeil, jeder Job ist gefährdet, Etats werden gekürzt, alle müssen länger für weniger Geld arbeiten. Ein Teenager, der mit der Dauerkarte von irgendwem für lau Bus fährt, ist den Leuten doch so was von scheißegal. Sie interessieren sich nicht für eine Xbox, die durch eine Versicherung abgedeckt ist, auch nicht für ein Auto, das bei einem Hehler landet. Sie bekommen Ersatz, schicker und schöner als das gestohlene Teil, mit mehr Ausstattung, besserem Navi, Bluetooth fürs iPhone, beheiztem Fahrersitz.
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