Bestimmte Auslöser können zum Kontrollverlust führen. Das gilt tragischerweise auch für Gedanken. Bei Frau H. ist es die Nähe zu einem Glücksspielautomaten, der einen starken Impuls auslöst. Es ist nicht schwierig, diese grundsätzlich zu meiden, indem man sich nicht in ihre Nähe begibt. Für Spielsüchtige während der ersten Phase ihrer Abstinenz ist diese Distanz eine ratsame Maßnahme.
Das Gehirn produziert permanent Gedanken, und man trägt es immer bei sich. Darum ist es eventuell viel schwieriger, von Gedanken, die zu Kontrollverlusten führen, abstinent zu werden, zumal es einen Magneten zu geben scheint, der diese Gedanken förmlich anzieht. Aber auch hier ist es ratsam, auf das Problem zuzugehen und genau zu erforschen, welche Auslöser dies sind, wie sie benannt werden können. Sie gehören auf den Prüfstand, damit sie einer realistischen Bewertung zugänglich werden. Aus Angst vor der Angst wollen Betroffene mit den entsprechenden Auslösern möglichst nicht in Berührung kommen. Damit ist das eigentliche Problem beschrieben. Aber gerade die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit dem Auslöser nimmt das Drama und damit schon viel von der Angst. Ein realistischer Blick auf das Problem hilft, die Dinge anders und besser einzuordnen. Auch hier geht es darum, die Opferrolle zu verlassen und in die Täterrolle zu gelangen. Ohne dass es zu einem Umlernprozess im Gehirn kommt, ist Veränderung nicht denkbar.
2. Amygdala-Klärung – eine Selbsthilfemethode
Amygdala-Klärung nenne ich eine Methode, die hilft, die Fehlreaktionen des Mandelkerns zu korrigieren. Sie ist mir bei den Recherchen zum emotionalen Kontrollverlust bewusst geworden. Wer weiß, welche Funktion die Amygdala hat, kann sein Verhalten und seine emotionalen Reaktionen besser verstehen. Wenn es darum geht, mehr Kontrolle über die eigenen Reflexe zu bekommen, ist eine gewisse Form der Aufmerksamkeit hilfreich. Vielen Menschen spielt die Amygdala einen Streich, nämlich dann, wenn sie Alarmzeichen sendet, die zu Angst, Wut oder sonstigen Überreaktionen führen, die der momentanen Situation jedoch nicht angemessen sind. Die Amygdala ist leider sehr häufig für falsche Signale verantwortlich. Sie kann sogar großes Unheil anrichten, nämlich dann, wenn sie ständig Angstsignale sendet, obwohl dafür kein Anlass vorhanden ist.
Das Leben der meisten Menschen wäre viel einfacher und angenehmer, wenn sie auf ihre unrealistischen, unpassenden, unangemessenen Ängste verzichten könnten. Diese sind überflüssig, können aber das gesamte Leben vergiften.
Fast jeder kennt die Situation, dass ihn ein mulmiges Gefühl beschleicht, wenn er auf einem hohen Turm steht, in einen tiefen Abgrund schaut, im Fernsehen eine dramatische Szene gezeigt wird, das Flugzeug rasant abhebt. Obwohl man sich in völliger Sicherheit befindet, will die Furcht nicht sofort weichen. Schuld ist die Amygdala, die spontan eine Situation erkannt hat, die als gefährlich identifiziert wurde. Jetzt geht es um die richtige Einschätzung. Zunächst kann man der Amygdala ein Kompliment machen, nämlich, dass sie funktioniert. Solche Einschätzungen, wie sie in diesem Augenblick passieren, können Leben retten. In wirklich gefährlichen Situationen brauchen wir spontane Impulse, die zum Handeln führen. Die Amygdala hat die Aufgabe, das tatsächliche Geschehen mit gespeicherten Inhalten zu vergleichen und Alarm zu schlagen, wenn Gefahr erkannt wird. Nachdenken ist zu umständlich, wertvolle Sekunden sind verloren, und möglicherweise wären dramatische Nachteile entstanden. Während der Autofahrt taucht plötzlich ein Hindernis auf, nur der spontane Tritt auf die Bremse kann einen Unfall verhindern. Der versierte Autofahrer macht dies, ohne nachzudenken. Im Neokortex (der Ort des logischen Denkens) wird die Situation erst anschließend analysiert: Gerade noch mal Glück gehabt; das war knapp; gut, dass ich so wach war … Aber eventuell ist die Chemie im Körper immer noch in Aufruhr, der Schock sitzt tief, die Knie zittern, im Magen ein flaues Gefühl … Allmählich kann man sich wieder beruhigen. Die realistische Einschätzung führt dahin, dass man sich wieder sicher fühlt.
Was kann man tun, wenn plötzlich ein unliebsames Gefühl entsteht, das nicht ins Geschehen passen will? Man lenkt die Aufmerksamkeit auf die Amygdala und darauf, was hier gerade geschieht.
Frau T. wird zu ihrem Vorgesetzten gerufen. Spontan überfällt sie Angst, sie fragt sich: Was will er von mir? Werde ich möglicherweise kritisiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Dabei sind ihre Befürchtungen unberechtigt, denn als souveräne Mitarbeiterin waren die Kontakte mit ihrem Chef stets angenehm. Nachdem sie sich mit der Methode Amygdala-Klärung vertraut gemacht hat, stellt sie sich selbst die Frage, ob der Mandelkern ihr gerade wieder einen Streich spielt. Nach kurzem Überlegen ist sie sicher, dass dem so ist. Sie atmet tief durch und lässt ein Grinsen auf ihrem Gesicht erscheinen. Die Ängste verschwinden, sie wird neugierig und überlegt, dass sie mit allem fertigwerden wird.
Nicht selten stammen Ängste aus der Kindheit und belasten die Psyche im Hier und Jetzt. Hinzu kommen die zusätzlichen Selbstabwertungen, weil man »solche Ängste« hat, weil man sich klein und wenig selbstsicher fühlt. Mithilfe von Amygdala-Klärung wird eine realistische Einschätzung der Situation möglich (»Es ist ja nur die Amygdala, die mir gerade einen Streich spielt, das muss ich nicht ernst nehmen«) und die Angst verschwindet. Frau T. fühlt sich mutiger und kompetenter, als sie ihrem Vorgesetzten entgegentritt. Werden alte Ängste bewältigt, fühlen Menschen sich erwachsener und sicherer. Dies bedeutet, dass sie mehr positive Kontrolle über ihre Ängste gewonnen haben.
Schon wenn die Frage gestellt wird: Spielt mir die Amygdala gerade einen Streich?, wird die Aufmerksamkeit auf das realistische Denken gerichtet, der Neokortex wird aktiviert. Frau T. kennt diese und ähnliche Ängste schon lange. Bereits als Kind war sie schüchtern und lebte in der Angst, nicht zu genügen.
Stellen Sie sich vor, Sie wollen die neue Attraktion »Edge« in New York besuchen, eine Aussichtsplattform in 330 Meter Höhe. Sie schauen in die Tiefe, denn Sie stehen auf einem Glasboden. Die Amygdala schlägt Alarm, das ist ihre Aufgabe, unweigerlich stellt sich Angst ein. Eine Möglichkeit wäre, den Schritt nicht zu wagen. Sie entschließen sich jedoch, den Schritt auf den Glasboden zu tun – und spüren den festen Grund. Der Neokortex (der nüchterne Verstand) kann jetzt seine Arbeit tun und versichern, dass es keine Gefahr gibt. Die Angst überwunden zu haben ist ein gutes Gefühl. Tatsächlich lassen sich Ängste genießen, wenn man sie bewältigt. Wer vor seiner Angst zurückweicht, verstärkt sie unweigerlich. Wer auf seine Ängste zugeht, kann sie genießen.
An diesem Beispiel lässt sich das Grundmuster der Angstbewältigung zeigen. Um Amygdala-Klärung anzuwenden, bedarf es: Aufmerksamkeit, Verstand und ggf. Mut.
!
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich über seine Ängste erheben kann. Mithilfe des Verstandes ist er in der Lage, seine Gefühle zu beeinflussen.
Immer wenn störende Gefühle auftauchen, ist die Frage berechtigt, ob sie aus früheren Programmen stammen, die in der Amygdala abgelegt sind. Man geht in eine erwachsene Position und klärt dies für sich selbst auf. In dem Moment, in dem jemand auf seine Ängste zugeht, kann der Ort des logischen Denkens, der Neokortex, die Regie übernehmen. Am Beispiel von Frau T. ist zu erkennen, dass sie ihre Angst als ein Relikt ihrer Kindheit erkannte, damit konnte sie aufhören, sie ernst zu nehmen. Darum geht es: die übertriebenen, unangemessenen Ängste nicht mehr ernst zu nehmen und sie hinter sich zu lassen. Statt der Angst entwickelte Frau T. Neugier, ein angemessenes Gefühl, und sie tat das Richtige, sie ging auf ihre Ängste zu.
Читать дальше