Es gibt Menschen, die selten oder nie die Kontrolle verlieren, ohne gleich langweilig zu sein. Die Frage ist, was machen sie anders, kann man von ihnen lernen?
Fast jeder kennt das typische sich in etwas Hineinsteigern, wahrscheinlich auch von sich selbst. Das gehört, wenn es nicht zu häufig passiert, zum menschlichen Leben. Man darf sich aufregen und auch mal unsachlich werden. Das sollte jedem erlaubt sein, niemand ist perfekt. Wenn aber Kontrollverluste über Gefühle das persönliche Leben belasten, psychische und körperliche Symptome verursachen, Beziehungen schwer beeinträchtigen oder gar zerstören, das Gefühl von Freiheit verschwindet und die Angst vor dem nächsten »Ausrutscher« dominant ist, dann besteht Handlungsbedarf. Dieses Buch ist auch für Angehörige geeignet, die unter den Kontrollverlusten, etwa des Partners, der Partnerin, leiden.
Herzlich danken möchte ich meiner lieben Frau Annemie für ihr Zuhören und ihre Geduld, für die gründliche Bearbeitung des Manuskripts und die vielen Anregungen. In gleicher Weise gilt mein Dank meinem Sohn Frank für die wertvollen Anmerkungen und Anregungen bei der Durchsicht des Manuskripts.
Bad Fredeburg, im Juli 2020
Heinz-Peter Röhr
1. Was man über Gefühle wissen sollte
Was sind Gefühle und woher kommen sie?
»Den kann ich nicht riechen!« – Das sagt jemand, der an dieser Person noch nie wirklich gerochen hat. Hier wird Archaisches angesprochen. Der Geruchssinn hat seine Bedeutung verloren, aber in unserer Sprache findet er noch Verwendung. Korrekter wäre der Ausspruch: »Derjenige ist mir unsympathisch, mit dem möchte ich nichts zu tun haben …« Forscher sind sicher, dass Deos, Parfüms und Rasierwasser während der ersten Phase des Kennenlernens von Paaren hinderlich sind. Ob Menschen zusammenpassen, spüren sie auch darüber, ob sie den Geruch des potenziellen Partners als angenehm oder weniger angenehm wahrnehmen. Liebe geht nicht nur »durch den Magen«, sondern vor allem auch »durch die Nase«. Für den Urmenschen stand Riechen für die Lebensbewältigung mit im Vordergrund. Der moderne Mensch lebt rational, mithilfe seiner intellektuellen Fähigkeiten; er kalkuliert, überlegt und entscheidet. Leitend ist hier der für das Rationale zuständige Teil des Gehirns, das rationale Gehirn, der sogenannte Neokortex.
Nur wer sich dafür öffnet, bemerkt, dass das Instinktive nicht verschwunden ist. Man sagt beispielsweise, dass jemand eine »gute Nase« für Aktien hat, für moderne Kunst oder andere Bereiche … Manche Entscheidung wird aus dem »Bauch« heraus gefällt, weil bestimmte Gefühle den Ausschlag gaben. Tatsächlich kommt sie aber aus dem für Emotionen zuständigen Areal des Gehirns: dem emotionalen Gehirn. Immer wenn in diesem Zusammenhang von »Herz« oder »Bauch« die Rede ist, ist das emotionale Gehirn gemeint. Geht es um eine durchdachte Entscheidung, ist der Neokortex zuständig, das rationale Gehirn.
Das Gehirn lässt sich also in zwei Bereiche unterteilen. Zum einen gibt es das emotionale Gehirn, bestehend aus dem Limbischen System und vor allem der Amygdala. Hier entstehen unsere Gefühle. Der zweite Bereich ist das rationale Gehirn, es besteht in erster Linie aus dem Neokortex, dem Hauptteil der Großhirnrinde. Hier findet logisches Denken statt. Während das emotionale Gehirn sich tief im Innern des Kopfes befindet, bildet der Neokortex die äußere Rinde mit den typischen Windungen und Furchen.
Das Intuitive, das Schöpferische kommt aus tieferen Schichten der Seele. Kreative Menschen vertrauen ihrem Gespür, nicht ausschließlich ihrem Verstand. Eine gute Entscheidung ist meist die, die sich »richtig anfühlt«. Bei der Partnerwahl wird dies oft dann besonders deutlich, wenn die Beziehung scheitert: Ich wusste schon immer, dass ich ihn/sie nicht hätte heiraten dürfen … Wahrscheinlich war es der Verstand, der sagte, dass man keinen Rückzieher machen sollte. Besser wäre es gewesen, auf den »Bauch« zu hören! Selbstverständlich sollte der Verstand bei Entscheidungen beteiligt sein. Wer beispielsweise beim Shoppen nur dem momentanen Gefühl folgt, könnte in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die Frage Kann ich mir das leisten und brauche ich das wirklich? kann nur der nüchterne Verstand beantworten. Der Ärger über unsinnige Käufe ist besonders bei kaufsüchtigen Menschen extrem, da sie beim Shoppen einem Kontrollverlust ausgeliefert sind und lauter Dinge kaufen, die sie nicht benötigen. Daher bereuen sie anschließend den Kauf. Gute Entscheidungen leben davon, dass Verstand und Gefühl in angemessener Weise beteiligt sind. Bei vielen Entscheidungen sollte klar der Verstand dominieren, andere dürfen eher gefühlsbestimmt sein. Mit bestimmten Einrichtungsgegenständen in meiner Wohnung will ich mich beispielsweise in erster Linie wohlfühlen. Welche Autoversicherung für mich die richtige ist, entscheide ich dagegen nicht nach Gefühl, auch wenn manche Werbung in diese Richtung arbeitet.
Viele Gefühle kommen aus dem emotionalen Gedächtnis, in dem vor allem in unseren ersten Lebensjahren Erfahrungen gespeichert werden, an die wir noch keine bewusste Erinnerung haben. Das emotionale Gedächtnis erinnert sich aber an die zugehörigen Gefühle und kann diese in vergleichbaren Situationen reaktivieren. Es handelt sich um eine Ahnung, vielleicht eine tiefe Befürchtung, eventuell um alte Ängste. Wenn man diesen Vorgang im Computertomografen sichtbar machte, würde man sehen, wie fast ausschließlich das Limbische System, das emotionale Gedächtnis in Verbindung mit der Amygdala aktiv ist. Im Unterschied dazu sind Gefühle oft auch Produkte von Denkvorgängen, Überlegungen und Bewertungen.
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Der Satz: So, wie ich denke, so fühle ich auch, ist richtig und eine uralte Erkenntnis.
Im Computertomografen würde man erkennen, dass Bereiche des Neokortex aktiv sind. Verstand und Gefühl sind keine Gegensätze. Ununterbrochen löst der Verstand mithilfe von Gedanken Gefühle in uns allen aus, ohne dass wir dies immer bewusst beobachten. Jeder spricht in Gedanken unablässig mit sich selbst, und so wie man mit sich selbst redet, gestalten sich Gefühle. Wer sich in einem depressiven Gedankenkarussell bewegt, hat unweigerlich Gefühle, die ihn herunterziehen. Seine Gefühle, seine Stimmung hellt sich allmählich auf, wenn er intensiv an ein freudiges Ereignis denkt. Im Vorfeld einer depressiven Erkrankung beschäftigen Betroffene extrem negative Gedanken – das Gedankenkarussell lässt sich nicht mehr stoppen. Es ist auch hier wieder der Kontrollverlust, der darauf aufmerksam macht, dass etwas verkehrt läuft.
Wie sehr Bewertungen unsere Gefühle beeinflussen, lässt sich an folgendem (etwas makabren) Beispiel zeigen:
Herr Meier ist gestorben:
»Das ist ja furchtbar, ich bin doch auf ihn angewiesen, er war immer so freundlich und mein bester Kunde; wenn ich ihn verliere, werde ich mein Geschäft schließen müssen …«
Herr Meier ist gestorben:
»Das ist keine schlechte Nachricht, endlich bin ich diesen direkten Konkurrenten los. Jetzt werden viel mehr Kunden bei mir kaufen müssen. Meier habe ich nie gemocht, er war immer so herablassend zu mir …«
Der Umstand, dass Herr Meier gestorben ist, kann unterschiedliche Gefühle – von Sorge bis Erleichterung wie im obigen Beispiel – hervorrufen. Wie jemand sich nach solch einer Nachricht fühlt, hängt von der jeweiligen Bewertung ab, der Blickwinkel ist entscheidend. Gefühle lassen sich nur verändern, wenn der Blickwinkel verändert wird. Dies ist der Kern der Kognitiven Psychotherapie.
Selbstverständlich ist auch der Körper beteiligt, denn er ist der Ort, in dem Gefühle empfunden werden.
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Gefühle sind minimale bioelektrische Impulse, die den gesamten Körper durchströmen.
Starke Gefühle, so sagt man, spürt man bis in die Haarwurzeln. So kann Angst beispielsweise tatsächlich eine Gänsehaut erzeugen oder buchstäblich »die Haare zu Berge stehen lassen«.
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