Es war wahrhaft herzerfrischend. Die Regierung im allgemeinen und der Staatsminister im besonderen bekamen ihr Fett weg. Nach einem einleitenden, bissigen Resümee über die Preisentwicklung war Frau Samuelsson schnell zu ihrem Thema des Tages gekommen. Die Verrohung und der moralische Verfall in Stockholm wurde in grellen Farben ausgemalt. Sie beschrieb, wie Frauen und alte Menschen es aus Angst vor Gewalttätern nicht mehr wagten, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie erklärte, sie sei selbst mehrmals von verlotterten Mannsbildern belästigt worden – eine Behauptung, der man meiner Ansicht nach kaum Glauben schenken durfte. Sie berichtete mit erstaunlicher Sachkenntnis und abstoßendem Realismus über die abscheulichen Morde in der Hauptstadt innerhalb der letzten fünf Jahre und schloß – nach einer Anhebung ihrer Oberweite, die nicht von dieser Welt war – mit der Forderung nach sofortigen und durchgreifenden Maßnahmen gegen »Raufbolde, Radaubrüder und kriminelle Subjekte« samt eines Appells an den Staatsminister, »ein Birger Jarl zu werden, der von neuem den Frauenfrieden in der Hauptstadt verteidigt».
Birger Jarl, der über dem Schreibtisch zusammengesunken war, stellte sich auf die Hinterbeine und begann das Gegenfeuer zu eröffnen. Er sprach von unserer im Grunde so gesunden Jugend, über die ständig steigenden Ressourcen, die die Regierung und der Reichstag der Ordnungsmacht zur Verfügung stelle, er sprach von Polizeihunden, Polizeipferden und davon, wie er persönlich mit unermüdlicher Aufmerksamkeit die Entwicklung verfolge.
An dieser Stelle schnaubte Frau Samuelsson kräftig, doch der Staatsminister holte abermals aus und erklärte, die neueste Statistik belege, daß die Schwerkriminalität rapide abgenommen hätte. »Ich könnte Ihnen Zahlen zeigen ...«, sagte er.
»Tun Sie das!« antwortete Frau Samulesson.
»Ich könnte Ihnen Zahlen zeigen«, wiederholte der Staatsminister, »aber leider ist mein Diagramm im Moment ... ich weiß nicht, wo ...« – er suchte nach den richtigen Worten, und er fand sie: »Sie stehen mir im Moment nicht zur Verfügung.«
»Unordnung scheint sich von den Straßen ins Justizministerium ausgebreitet zu haben«, entgegnete Frau Samuelsson und lächelte grimmig. »Und warum verstecken Sie sich hier draußen in Spånga, in einem ruhigen Villenvorort? Traut sich nicht mal mehr die Regierung, in der Innenstadt zu arbeiten?«
Hier setzte der Staatsminister alles auf eine Karte.
»Hauswirtschafterinnen!« rief er. »Ich versichere Ihnen, ich gebe Ihnen mein Wort als Politiker ... ähäm. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, die Regierung hat die Lage unter Kontrolle. Wenn ich doch nur wüßte, wo ... Jetzt weiß ich es wieder! Jetzt fällt mir ein, wo das Diagramm ist, das beweist, daß eine Wendung zum Besseren stattgefunden hat!«
Er nahm Anlauf, durchbrach den Halbkreis der Hauswirtschafterinnen und stürmte auf einen der gewaltigen Eichenschränke an der Längswand zu.
»Hier«, rief er triumphierend, »hier ist der Beweis dafür, daß die Schwerkriminalität gerade jetzt rapide abnimmt! Der Beweis dafür, daß sich alle Mitbürger auf Stockholms Straßen ihres Leibes und Lebens genauso sicher sein können wie in diesem Zimmer!«
Und dann löste er einen Riegel und schlug die Schranktür auf.
Wir hatten Staatssekretär Svanberg unrecht getan.
Er mußte lange vor uns allen zur Stelle gewesen sein.
Er lag in Inneren des Schranks. Nein, vielleicht saß er mehr dort, zusammengekauert wie ein Embryo im Mutterleib. Der Kopf war auf die Seite gefallen, und die gebrochenen Augen schauten uns an.
Wir hatten uns alle zum Schrank umgedreht und mußten ihn alle im selben Augenblick entdeckt haben.
Ich entsinne mich der Stille, und ich entsinne mich der Schreie, der gellenden, hysterischen Schreie ...
Es war abermals Vormittag.
Den ganzen Abend und die ganze Nacht hatte die Polizei in der Villa gearbeitet. Mit all ihren Männern und all ihren Apparaturen hatten sie Verhöre durchgeführt, Untersuchungen angestellt, Vermessungen vorgenommen, und erst im Morgengrauen waren sie fertig geworden.
Wir hätten wohl im Arbeitszimmer sitzen bleiben können, aber aus irgendeinem Grunde war es nicht zur Sprache gebracht worden. Darum saßen wir in der Bibliothek, dem einzigen ruhigen Privatraum im Haus. Der Staatsminister blätterte zerstreut in dem vorläufigen Polizeibericht, das Ergebnis der Mühsal des Tages und der Nacht.
»Es war doch etwas ärgerlich«, murmelte er. »Ich meine, er war doch immerhin mein engster Mitarbeiter. Und in meinem Schrank ... Erwürgt und das alles.«
Ich dachte bei mir, man mußte hohe Ansprüche haben, um das Geschehene als »etwas ärgerlich« beschreiben zu können. »Skandalös und erschütternd« waren die Worte, die ich in der Situation passender fand. Doch seine Reaktion wunderte mich trotzdem nicht. Der Staatsminister hatte schließlich seinen Staatssekretär noch nie leiden können, er hatte ihn zusammen mit dem Amt geerbt, und er hatte zuletzt am Vortag seinen Willen kundgetan, daß er ihn loszuwerden gedachte, auf die eine oder andere Art und Weise. Und was Ereignisse und Situationen – die peinlichen oder die anderen – anbelangt, so hatte er nie sichere Urteilskraft besessen. Seine Naivität ist in solchen Fällen jener grandiosen Art, wie man sie sonst nur bei Kindern und anderen glücklich unterentwikkelten Individuen findet. Daran, daß der Todesfall ihn selbst in einem seltsamen Licht erscheinen lassen könnte, schien er folglich nicht auch nur einen zerstreuten Gedanken verschwendet zu haben. Recht häufig hat mich die dunkle Ahnung beschlichen, der Staatsminister sei als Staatsminister ungeeignet. Bisweilen frage ich mich, ob er als Mensch richtig geeignet ist.
Und jetzt blätterte er im Polizeibericht. Der Leiter der Ermittlungen war sehr kooperativ gewesen und hatte ihm die Unterlagen anstandslos zur Verfügung gestellt. Inwieweit es sich darauf zurückzuführen ließ, daß der Staatsminister sein höchster Chef war oder auf dessen Meriten bei anderen Mordfällen oder einfach nur auf die Tatsache, daß er, der Leiter der Ermittlungen, sich auf den vakanten Posten des Polizeipräsidenten von Stockholm beworben hatte, wage ich nicht eindeutig zu beurteilen.
Kurz und gut, der Staatsminister hatte den Bericht bekommen. Und jetzt schüttelte er schnell das Gefühl ab, es sei etwas Ärgerliches geschehen, und ging zu den Fakten über.
»Die Polizei hat sich natürlich auf das Arbeitszimmer konzentriert«, berichtete er. »Oder genauer gesagt auf die Arbeitszimmer, sie bilden ja eine Abteilung mit eigener Haustür zum Garten und nur einer Tür zum Privatbereich des Hauses. Die Fenster sind geschlossen und ordentlich verriegelt gewesen und sind nicht beschädigt worden. Der Glasermeister hatte die neue Scheibe vorrätig und kurz nach dem Abendessen eingesetzt, und der Kitt war trocken, als ich nach Arlanda fuhr, so daß wir mit irgendeiner Art von Hokuspokus nicht rechnen können. Svanberg und sein Mörder müssen also durch die Tür zum Garten oder zum Wohnzimmer in mein Arbeitszimmer gekommen sein. Wann? Ja, wann stand das Arbeitzimmer leer? Zuerst sollte ich vielleicht sagen, der Gerichtsmediziner ist der Ansicht, er sei irgendwann zwischen halb elf und halb eins am Donnerstag abend gestorben, heute haben wir Samstag. In der Zeitspanne muß er auch in den Schrank verfrachtet worden sein, sagt der Doktor. Ich nehme an, er kann das anhand der Stellung der Gliedmaßen, der Leichenstarre und dergleichen feststellen. Nach dem Abendessen vorgestern hier – wir waren gegen halb sieben Uhr fertig – zog doch Svanberg seiner Wege, während Frau Johansson, Ministerialrat Dååbh und Konsul Karling noch mit uns im Wohnzimmer sitzen blieben und Kaffee tranken. Um sieben Uhr ging Karling, eine Viertelstunde später Frau Johansson und zur gleichen Zeit zogen Dååbh und ich uns zurück in mein Arbeitszimmer, wo wir bis kurz vor halb elf arbeiteten, als du hereinkamst und ich Dååbh zur Tankstelle schicken mußte, um den Wagen zu holen. Zwanzig Minuten später war er zurück, dann fuhren wir in die Staatskanzlei und von dort begab ich mich weiter nach Arlanda.«
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