Aage G. Sivertsen
Das unerwartete Schachgenie
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg und Rainer Vollmar
Titel der Orginalausgabe:
Magnus
Kagge Forlag, Oslo 2015
Copyright © Aage G. Sivertsen
Published in agreement with
Stilton Literary Agency
This translation has been published
with the financial support of NORLA.
Erste Auflage 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe
Osburg Verlag Hamburg 2017
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-130-5
eISBN 978-3-95510-138-1
Für Ekaterina
Boy meets Beast
Magnus als Mozart
Die Erziehung von Genies
Eine kompromisslose Methode
Magnus’ familiärer Hintergrund
Die Schwestern Gara
Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs
Zum ersten Mal Vollprofi
Der Sieger Simen Agdestein
Ist Spielstärke altersabhängig?
Malysj
Der Weltbeste
Ratingverluste
Nein zu Kasparow
Mit den Figuren sprechen
In seiner eigenen Welt
Schüler verliert gegen Lehrer
Nummer 10 von hundertachtundzwanzig Großmeistern
Lehrer verliert gegen Schüler
Begegnung mit der Weltelite
Der Nervenkrieg gegen Aronjan
Halsbrecherisches Turniertempo
Heimliche Zusammenarbeit mit Kasparow
Geldsorgen
Glück ist kein Zufall
Kasparow wird entlassen
Der Bruch mit Simen Agdestein
Heimliche Helfer
An der Spitze der Rangliste
Verlegenheit und Berühmtheit
Magnus zieht zurück
Nichts Vergleichbares auf der Welt
Nervenkrieg in London
Kramniks Finte
Besorgte Mutter
Vor der dreizehnten Runde: Psychokrieg
Die dreizehnte Runde: Blut aus einem Stein pressen
Vor der vierzehnten Runde: Crescendo
Eine Stippvisite in der Hölle
Weltmeister in Chennai
Donald Duck und Kartenspiel
Alles oder nichts
Die neunte Partie
Dreifacher Weltmeister
Der Tiger aus Chennai
Das Drama von Sotschi
Das Nervenspiel
Die zweite Partie: Anand überspielt
Die dritte Partie: Der Schock
Die vierte Partie: Magnus stocksauer
Die fünfte Partie: Kontrolle
Die sechste Partie: Ein Geschenk für Anand
Die siebte Partie: Die wissenschaftliche Herangehensweise
Die achte Partie: Magnus schläft
Die neunte Partie: Die Ruhe vor dem Sturm
Die zehnte Partie: Die vorletzte Chance
Die elfte Partie: »All-In«
Magnus Carlsen im Licht von Fischer und Kasparow
»Zwanzig Prozent Schach, achtzig Prozent Psychologie«
Nachwort
Anmerkungen
Anhang:
Schachbegriffe
Literaturverzeichnis
Artikel und Filme
Bildnachweis
Reykjavik, 12. März 2004
Nach dem normalen Open fand in Island noch ein Blitzturnier statt. Dabei kam es zu einer kleinen Schachsensation. Denn Magnus Carlsen schlug den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow.
Direkt nach der Partie wandte Magnus sich der Tribüne zu, auf der seine gesamte Familie saß. Der dreizehnjährige Junge lächelte und reckte den Daumen nach oben. Seine ältere Schwester Ellen erwiderte die Geste.
Karpow spielte zu dieser Zeit noch immer auf sehr hohem Niveau, und die norwegischen Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Insgesamt vielleicht ein wenig übertrieben, aber den norwegischen Journalisten wurde allmählich bewusst, dass sich etwas Großes anbahnte. Allerdings ging es um die Randsportart Schach, nicht um Langlauf oder Fußball. Daher nahm man es nicht richtig ernst – noch nicht.
Am darauffolgenden Tag sollte Magnus gegen Garri Kasparow zum Schnellschach antreten. Kasparow hatte bei dem Blitzturnier den 2. Platz belegt, Magnus war Vorletzter geworden. Aufgrund dieser Ausgangssituation mussten die beiden beim anschließenden Schnellschachturnier gegeneinander antreten. Es war das erste Mal, dass Magnus Carlsen der Schachlegende begegnete.
Karpow war 2004 noch immer stark, aber Kasparow galt weiterhin als bester Spieler aller Zeiten. Er stand auf dem 1. Platz der Weltrangliste. »Boy meets Beast« titelte das Internetmagazin Chess-Base . Der Vergleich David gegen Goliath lag allerdings näher. Der gestandene, ernste, gut gekleidete Kasparow gegen einen Jungen, der mit den Beinen kaum den Boden berührte, wenn er sich an den Tisch setzte.
Magnus Carlsen belegte zu diesem Zeitpunkt Platz 786 der Weltrangliste. Kasparow hatte ein Rating von 2831, während Magnus gerade einmal bei 2484 stand. Die Partie war aussichtslos. Beim Fußball könnte man sie mit dem Spiel einer hervorragenden Erstligamannschaft gegen eine Jugendauswahl vergleichen. Normalerweise würde die Erstligamannschaft zweistellig gewinnen. Ein paarmal vielleicht nur mit sechs oder sieben Toren Unterschied, aber dass sie unentschieden spielen oder gar verlieren würde – undenkbar. Aber Schach ist kein Fußball. Der psychologische Faktor ist weitaus wichtiger und kann dazu führen, dass der Beste sogar gegen einen klar schwächeren Gegner verliert. Dennoch war der Unterschied in der Spielstärke so groß, dass es nahezu utopisch war, auf eine Sensation zu hoffen.
Am Vorabend entschied Magnus, sich mit der Lektüre von Micky-Maus-Heften auf die Partie vorzubereiten. Nach dem langen Open war er noch ein wenig erschöpft, und es gab keinen Grund, sich unnötig unter Druck zu setzen.
Das Schnellschachturnier, bei dem die Spieler eine Bedenkzeit von fünfundzwanzig Minuten für die gesamte Partie zur Verfügung hatten, sollte um 18 Uhr beginnen. Doch ein Spieler tauchte nicht auf: Kasparow. Normalerweise wird die Uhr in Gang gesetzt, und wenn der Gegner nicht rechtzeitig erscheint, hat er die Partie verloren. Der Veranstalter entschied jedoch, Kasparows Uhr nicht anzustellen, denn dem russischen Schachgenie war versehentlich nicht mitgeteilt worden, dass das Turnier an diesem Tag eine Stunde früher begann. Während Magnus gespannt auf den weltbesten Schachspieler wartete, schlenderte er umher und verfolgte die anderen Partien. Nach zwanzig Minuten erschien die Schachlegende. In einem tadellosen blauen Anzug, hellblauen Hemd und mit passender Krawatte. Selbstsicher, eine Hand in der Jackentasche, ging er direkt zum Tisch, an dem Magnus bereits saß. Er erklärte ihm, dass nicht er, sondern der Veranstalter für sein Zuspätkommen verantwortlich sei.
Kurz zuvor hatte Carlsen sich ein Glas Cola geholt. Normalerweise trinkt er Orangensaft, eine volle Flasche stand auch auf dem Tisch, aber er hatte Lust auf eine Cola. Kasparow zog sein Jackett aus und nahm die Armbanduhr ab, legte sie links neben das Brett. Er hatte weder Saft noch ein anderes Getränk mitgebracht. Das Publikum sah einen ehemaligen Weltmeister, der ungewöhnlich nervös zu sein schien. Magnus führte seinen ersten Zug aus, Bauer nach d4. Kasparow berührte sämtliche Figuren, rückte sie exakt so zurecht, wie er sie haben wollte, und verhüllte mit den Händen sein Gesicht, ehe er Bauer nach d5 erwiderte und die Uhr drückte.
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