Man muss auf die Schachgeschichte zurückblicken, um die Gründe zu verstehen. Schach war normalerweise ein Spiel für Männer. 5In mehreren Ländern der Erde war Schach verboten. Und wenn es zugelassen wurde, war es oft ausschließlich Männern gestattet. Da Schach als Kriegsspiel bekannt ist, bei dem das erklärte Ziel streng genommen darin besteht, dem Gegner das Leben zu nehmen, ist es keine Überraschung, dass das Spiel lange nur Männern vorbehalten war.
In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Schachspielerinnen immer mehr zugenommen, vor allem junge Frauen zeigen zunehmend Interesse. Trotzdem gibt es nach wie vor eine strikte Trennung von Jungen und Mädchen. Bei Turnieren können Mädchen in der Gruppe der Jungen spielen, aber nicht umgekehrt. Der Grund liegt zum Teil in der Rekrutierung der Schüler. Es ist schwierig, Mädchen zu bewegen, sich an einer Aktivität zu beteiligen, die so von Jungen dominiert wird. Daher wurden eigene Mädchengruppen eingeführt. Doch diese Regeln können sich ändern. Über kurz oder lang werden sie sich sicherlich nicht mehr so behandeln lassen.
Judit Polgár gehört zu den Frauen, die sich weigern, an reinen Frauenturnieren teilzunehmen. Sie ist eine Pionierin unter den Schachspielerinnen – und sie war vor ihrem Karriereende stärker als fast alle Männer auf der Welt.
Magnus’ familiärer Hintergrund
Es gibt genügend Beispiele, dass Kinder erfolgreicher Eltern selbst Erfolg haben. Trifft dies in Magnus Carlsens Fall auch zu? Es ist interessant, sich ein bisschen mit Magnus’ Stammbaum zu beschäftigen. Mit dem Stammbaum eines Kindes kann man kaum etwas beweisen, aber es ist nun einmal so, dass der Weltmeister Magnus Carlsen ein ganz spezielles genetisches Erbe aufweist. Eine kleine Untersuchung der mütterlichen und väterlichen Seite liefert ein paar erstaunliche Informationen. Fangen wir bei der Mutter an.
Mutter Sigrun hat Chemie an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim studiert, aber nie Schach gespielt. Ihr Lieblingsfach war allerdings immer Mathematik. Sigruns Vater, Sverre Øen, war Elektroingenieur und spielte mit seinen Schulkameraden Schach. Sverre Øen war mit Berit verheiratet, einer Chemikerin. Die Lieblingsfächer von Sigruns Eltern waren die Naturwissenschaften.
Sigruns Großeltern väterlicherseits besuchten keine weiterführende Schule, beide spielten auch nicht Schach. Dies gilt auch für ihre Großeltern mütterlicherseits. Wie viele Norweger in dieser Zeit besaßen sie einen Hof. Sigrun Carlsen beschreibt Magnus’ Urgroßeltern als hart arbeitende Bauern.
Auf der väterlichen Seite stehen uns detailliertere Informationen zur Verfügung, und dabei stößt man auf ein erstaunlich hohes Bildungsniveau, das mehrere Generationen zurückreicht. Henrik Carlsen war ein sehr guter Schüler, vor allem im Fach Mathematik. Er konnte exzellent Kopfrechnen. Als Erwachsener wurde er Ingenieur, sein Interesse an der Mathematik hielt also auch nach der Schule noch an.
Henriks Bruder Fredrik ist Professor für Sozialwirtschaft. Auch er zeigte mathematische Fähigkeiten, die weit über den Durchschnitt hinausgehen. Fredrik kann sich nicht erinnern, dass er im Kopfrechnen so gut war wie Henrik, berichtet aber, er habe in Mathematik immer ausgezeichnete Noten bekommen. Ihre Schwester Birte, Magnus Carlsens Tante, machte in den USA einen Masterabschluss in Mathematik.
Magnus’ Großvater väterlicherseits, Kurt Magnus Carlsen, wuchs in Bergen auf. Er verließ die weiterführende Schule als bester Schüler seines Jahrgangs mit Bestnoten in sämtlichen Fächern. Er studierte ebenfalls an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim, wurde Diplomingenieur und spezialisierte sich auf Metallurgie. Kurt Magnus Carlsen wurde Leiter von Norsk Hydro Aluminium. Als Henrik Carlsen, lange nachdem der Vater in Rente gegangen war, bei derselben Firma eingestellt wurde, war dies nicht die schlechteste Voraussetzung, wie er erzählt: »Vater war oberster Chef bei Hydro Aluminium, und als ich mich bewarb, erinnerte man sich noch gut an ihn. Mir wurde mir erklärt, er habe die Aluminiumsparte des Unternehmens aufgebaut.«
Kate, Magnus’ Großmutter väterlicherseits, holte als Erwachsene ihr Chemiestudium nach und schloss es in den USA mit Diplom ab. Das Besondere an Kates Familie war, dass sechs von sieben Geschwistern die Universität besuchten. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war es höchst ungewöhnlich, dass sämtliche Kinder die Möglichkeit bekamen, ein Universitätsstudium zu absolvieren. Die Geschwister studierten Mathematik, Ingenieurswesen, Geologie, Medizin und Chemie. Eines der Kinder besuchte eine Gärtnerschule, und nur das Mathematikstudium wurde ohne Abschluss beendet.
Henriks Grußmutter väterlicherseits hieß Berta Ølmheim, wuchs in Sogndal auf und heiratete Albert Herman Carlsen. Sie war für ihre Willensstärke bekannt und galt als außerordentlich kluge Frau mit eindeutigen Meinungen. Albert Herman Carlsen hatte eine Halbschwester, die eine begeisterte Leserin war und ein fantastisches Gedächtnis hatte. Es hieß, sie könne sich sogar an die Seitenzahlen der Texte erinnern, die sie gelesen hatte.
Betrachtet man Magnus Carlsens Stammbaum auf der väterlichen Seite, zieht sich das Fach Mathematik wie ein roter Faden durch die Generationen.
Mathematik wird häufig mit Schach in Verbindung gebracht. Sehr viele gute Schachspieler zeigen großes Interesse an einem Studium der Informatik, der Mathematik oder eines anderen Faches, das mathematische Fähigkeiten erfordert. Einige Weltmeister haben auf diesen Zusammenhang explizit hingewiesen. 6
Magnus’ drei Schwestern sind ebenfalls mathematisch begabt. Die älteste Schwester Ellen studiert Medizin. Die beiden anderen, Ingrid und Signe, haben auf dem Gymnasium Bestnoten im Fach Mathematik.
Daher ist es schon erstaunlich, dass Magnus Carlsen auf der weiterführenden Schule nicht sonderlich gut in Mathematik war. Allerdings gibt es dafür eine schlichte Erklärung: Schon früh verlor er das Interesse an Mathematik. Dies hing damit zusammen, dass immer öfter Gleichungen mit x oder y und Kurvendiskussionen auf dem Lehrplan standen. Henrik Carlsen ist der Ansicht, dass Magnus bis heute nicht weiß, wofür ein x eigentlich steht. Auf dem Gymnasium, das Magnus wegen zu hoher Fehlzeiten ohne Abschluss verließ, hatte er in Mathematik meist eine Vier, im besten Fall eine Drei.
Dies bedeutet nicht, dass Magnus keine mathematischen Fähigkeiten besäße. Aber Mathematik war ihm zu langweilig, und er verstand nicht, warum er sich in diesem Fach anstrengen sollte.
»Meine Eltern haben mich gedrängt, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen. Ich habe aber nie bereut, dass ich das getan habe, was mir am besten gefiel: Schach spielen.«
Man sagt, Schach sei die Verbindung von Rechnen und Harmonie. Musiker können ihre Noten lesen und die Musik hören, ohne dass sie gespielt wird. Auf die gleiche Weise können Schachspieler die Notation von Schachpartien lesen und visualisieren. Nach dem Schachspieler und Musiker François Philidor wurde eine Eröffnung (1. e4 e5 2. Sf3 d6) sowie eine Technik im Turmendspiel benannt – die sogenannte Philidor-Stellung. Er wurde als Komponist bekannt, dessen Werke noch immer gespielt werden, und er war im 18. Jahrhundert lange einer der stärksten Schachspieler der Welt. 7
Die jüdischen Schwestern Gara sind weit weniger bekannt als die Schwestern Polgár. Auch sie stammen aus Ungarn, doch ihre Geschichte blieb außerhalb ihrer Heimat erstaunlich unbeachtet. 8Anita und ihre Schwester Ticia sind heute Schachprofis, sie spielen von Kindesbeinen an Schach.
Ihr Vater, der heute fast achtzigjährige Imre Gara, ist Arzt, und der Zufall wollte es, dass der Großvater der Polgár-Schwestern in demselben Krankenhaus behandelt wurde, in dem Imre Gara arbeitete. Als László Polgár zu Besuch kam, erzählte er von der Schachkarriere seiner Töchter. Er garantierte, dass die Schwestern Gara, die damals fünf beziehungsweise sechs Jahre alt waren, in die Weltspitze im Schach vordringen würden, wenn sie seinen Plan befolgten. Imre Gara war begeisterter Schachspieler und hatte eine Spielstärke im Bereich von Henrik Carlsen, kein Wunder also, dass er die Idee interessant fand.
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