Am 20. Dezember fuhren sie weiter Richtung Norden. Einen Tag vor Heiligabend saß Magnus mit seinem Schachtrainer Simen Agdestein zusammen und analysierte Partien. Sie kamen zu keinem Ende, und Magnus fragte, ob sie morgen weitermachen könnten. »Aber morgen ist doch Heiligabend«, erwiderte Agdestein.
Seit er anfing Schach zu spielen, hatte Magnus Carlsen fünf Trainer. Bjarte Leer-Salvesen war sein Lehrer im Freizeitangebot der Grundschule, Torbjørn Ringdal Hansen half ihm, sich von 900 auf 1900 Ratingpunkte zu verbessern, ein Sprung, für den der Junge lediglich ein Jahr brauchte. Magnus kam schachlich aus dem Nichts und spielte nun regelmäßig mit Erwachsenen, die seit zwanzig, dreißig Jahren vor dem Brett saßen. Im Alter von zehn Jahren wurde Simen Agdestein sein fester Trainer und arbeitete mit ihm zusammen, bis Magnus als Dreizehnjähriger zum zweitjüngsten Großmeister der Welt ernannt wurde. Eine hervorragende Entwicklung. Von da an unterrichtete ihn der damals beste Schachspieler Skandinaviens, der Däne Peter Heine Nielsen. Trainer zählen, so Henrik Carlsen, zu den wichtigsten Bausteinen auf dem Weg an die Weltspitze: »Alle Trainer waren für Magnus sehr wichtig. Sie spielten in den unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung eine einzigartige Rolle.«
Als Magnus acht Jahre alt war, trat er dem Schachklub der Gemeinde Bærum bei. Auch hier leitete Bjarte Leer-Salvesen das Training, den Magnus bereits aus der Grundschule kannte. Leer-Salvesen studierte damals Theologie an der Universität von Oslo und arbeitete nach Abschluss seines Studiums als Pastor. In seiner Gruppe waren rund zwanzig Kinder. Er erzählt: »Bereits nach ein paar Wochen merkte ich, dass Magnus besonderes Talent für das Schachspiel hatte. Er war schon nach sehr kurzer Zeit viel besser als alle anderen.«
Ein Jahr später spielte Magnus bereits sehr gut, und Torbjørn Ringdal Hansen übernahm die Trainingsverantwortung. Kurz zuvor hatte Leer-Salvesen beim Simultanschach gegen seinen Schüler gewonnen, als Magnus einer von fünfundzwanzig Spielern war, die gegen den Theologiestudenten antraten. Leer-Salvesen ist damit einer der wenigen Spieler auf der Welt, der Magnus im Simultanschach geschlagen hat, wenn Magnus zu den Herausforderern gehörte.
Dem norwegischen Schachgroßmeister Simen Agdestein war das Talent des Neunjährigen ebenfalls aufgefallen. Er schlug vor, dass Magnus bei Torbjørn Ringdal Hansen lernen sollte. Gleich zu Beginn des Unterrichts bemerkte Ringdal Hansen, dass der Junge etwas Besonderes hatte: »Es war völlig unglaublich, wie er sich an alles erinnerte, was ich ihm einmal erklärt hatte.«
Als Neunjähriger hatte Magnus ein Rating von ungefähr 900 und träumte davon, über 1000 Punkte zu kommen. Ein Jahr später stand er bereits bei einer Elo von 1900. Eine enorme Steigerung in so kurzer Zeit. Ringdal Hansen erklärte Simen Agdestein, dass nun er das Training übernehmen müsse. Magnus war zu gut für seinen Lehrer geworden!
Die Gemeinsamkeit aller fünf Trainer ist, dass ihre Spielstärke im Verhältnis zu ihrem Schüler besonders hoch war. Bjarte Leer-Salvesen hatte zu der Zeit, als Magnus mit dem Schachspielen anfing, annähernd 2300 Elo-Punkte. Zu dieser Zeit wurde Leer-Salvesen auch Internationaler Meister.
Torbjørn Ringdal Hansen hatte sogar noch einige Ratingpunkte mehr, als er die Verantwortung übernahm; er sollte Magnus’ erster richtiger Trainer werden.
Es kommt in Norwegen ausgesprochen selten vor, dass junge Schachspieler so gute Trainer haben wie Magnus Carlsen. In Russland ist es normal, dass Kinder mit dem Vater, einem Onkel oder einem anderen Verwandten trainieren. Das mag im ersten Moment vielleicht ein wenig amateurhaft klingen, doch sehr viele dieser Trainer sind ausgesprochen gute Schachlehrer und befinden sich oft auf einem hohen Niveau wie Leer-Salvesen und Ringdal Hansen.
Als Simen Agdestein und später Peter Heine Nielsen und Garri Kasparow die Verantwortung für das Training übernommen hatten, arbeitete Magnus Carlsen mit Kapazitäten zusammen, die der Weltelite angehörten. Kasparow war fünfzehn Jahre Weltmeister, Peter Heine Nielsen und Simen Agdestein zählten in ihrer besten Zeit zur erweiterten Weltspitze.
Man weiß von anderen Sportarten, dass diejenigen, die mit guten Sportlern trainieren, oft selbst gute Sportler werden. Ohne Zweifel ist dies auch bei Magnus Carlsen der Fall.
Der Sieger Simen Agdestein
Der 1967 geborene Simen Agdestein ist ein außerordentliches Sporttalent. Als Zwölfjähriger gehörte er zu den besten 800-Meter-Läu-fern Norwegens. Gleichzeitig war er ein ausgezeichneter Skiläufer. Mit elf Jahren begann er ernsthaft, Schach zu spielen, und als Sechzehnjähriger gewann er bei einem Turnier im norwegischen Gjøvik gegen Exweltmeister Boris Spasski. Eine Sensation. Der Junge hatte unerklärliche Fähigkeiten. Mit achtzehn Jahren errang er als damals jüngster Spieler der Welt den Großmeistertitel. 10Bei der Weltmeisterschaft der Junioren erreichte er den zweiten Platz, doch damit nicht genug: Simen Agdestein war der einzige Schachspieler mit Weltklasseniveau, der auch in einer Fußballnationalmannschaft spielte. Leider bekam er Knieprobleme und musste sich einer Operation unterziehen. Die Operation misslang, und Simen Agdestein musste im Alter von zweiundzwanzig Jahren seine Fußballkarriere beenden.
Die meisten Beobachter waren der Ansicht, er würde nun ein noch besserer Schachspieler werden, da er mehr Zeit hätte, sich darauf zu konzentrieren. Doch nach der missglückten Operation begann für Simen Agdestein eine traumatische Phase seines Lebens, er bekam Atemprobleme und war anderthalb Jahre krankgeschrieben. »Diese Zeit war ein gelebter Albtraum«, sagt er. »Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Ich musste mich zusammenreißen, um wieder auf die Beine zu kommen, aber im Grunde fühle ich mich seit damals nicht mehr richtig gesund.«
Die große Frage für Simen Agdestein lautete nicht, ob er Fußball oder Schach spielen konnte. Für ihn ging es in erster Linie darum, gesund zu werden. Er fing wieder an, Schach zu spielen, aber er erreichte nicht mehr die Form wie vor der Operation; und es dauerte mehrere Jahre, bis er das Gefühl hatte, wieder auf hohem Niveau Schach spielen zu können. Als Fußball-Nationalspieler und einer der weltbesten Schachspieler war Simen Agdestein in Norwegen unglaublich populär. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein ganzer Haufen Jugendlicher Schlange stand, um ein Autogramm von ihm zu bekommen. Nach seiner Fußballkarriere gelang es ihm jedoch nicht, sein hohes Rating als einer der besten Schachspieler der Welt zu halten. Als Schachlehrer und Organisator machte er aber weiterhin auf sich aufmerksam. Und zweifellos waren seine Lehrmethoden sehr gut für Magnus: »Mir war wichtig, dass ich in Magnus nichts zerstöre, sondern das Talent zur Blüte bringe.«
Im Gegensatz zu den strengen und detaillierten Unterrichtsmodellen, die man von osteuropäischen Schachschulen kennt, ging es bei Agdestein eher lustbetont zu. Spaß zu haben war das Wichtigste. Diese Trainingsform ist umstritten, aber für Magnus war sie perfekt.
»Viele Trainingseinheiten waren kaum vorbereitet, aber ich hatte eine Vision und einen Plan, wie ich ihn zum weltbesten Schachspieler mache«, sagt Simen Agdestein. Diese spielerische, spontane und lebenslustige Trainingsmethode war einzigartig. Trotzdem musste Magnus wie alle anderen Schachspieler auf dem NTG (Norges Toppidrettsgymnas), dem führenden Sportgymnasium Norwegens, ein Programm absolvieren, in dem ihm auch Kenntnisse der Schachtheorie beigebracht wurden. Nach seiner Grundschulzeit ging Magnus auf das NTG in Oslo, dort hatte Simen Agdestein den Schachzweig eingeführt und unterrichtete auch selbst.
Im Mai 2014 gelang ihm bei dem stark besetzten Norway-Chess-Turnier in Stavanger ein Comeback. Dort trat er gegen neun Spieler der Weltelite an. Es gab eine Reihe skeptischer Stimmen wegen seiner Teilnahme, viele meinten, der Unterschied zwischen der Weltspitze und einem längst abgetretenen Schachspieler, der nicht einmal mehr zu den hundertfünfzig weltbesten Spielern gehörte, sei zu groß. Vor der Teilnahme musste sich Simen Agdestein gegen Norwegens zweitbesten Spieler, Jon Ludvig Hammer, qualifizieren. Agdestein gewann. Dennoch hatte auch er Zweifel an der Richtigkeit seiner Teilnahme: »Es wäre normal gewesen, Jon Ludvig einzuladen. Er spielt wirklich professionell und engagiert Schach. Aber dann kam ich auf die Idee, ein kleines Comeback zu versuchen. Den Glauben an die eigenen Fähigkeiten hatte ich nie verloren, und ich hatte auch keine Angst, gegen die anderen anzutreten. Kurz vor Beginn des Turniers fand ich dann mit GM Jewgeni Romanow einen ausgezeichneten Sekundanten, mit dem die Zusammenarbeit gut funktionierte.«
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