Der November brachte eine Reihe von Regentagen und mit ihnen eine feuchte Kälte, die durch Haut und Knochen ging. Das Vieh war jetzt nachts in den Ställen, und bald würde man die Kühe auch tagsüber nicht mehr auf die Weide treiben können. Tatsächlich kam Anfang Dezember der Winter mit Schnee und Eis. Unter seiner Herrschaft erstarrte das Land am Oberen Hauenstein. Aber nach Lichtmess, wenn die Sonne jeden Tag wieder ein wenig früher über dem Hügelkamm erschien und abends etwas später hinter dem westlichen Horizont versank, schien es Mathis Jacob, als spüre er die Kräfte, die sich unter der Erde zu regen begannen. Und wie jedes Jahr war ihm, als sei es ein unfassbares Wunder, wenn im März die Natur zu neuem Leben erwachte, wenn der Schnee an der Sonne schmolz und an den aperen Stellen die ersten Krokusse das Licht des kommenden Frühlings und mit ihm das neue Bauernjahr begrüssten.
Am Gründonnerstag spannte Mathis seine beiden Pferde vor den Pflug, um das Feld für die Aussaat zu bestellen. Ab und zu schaute er hinüber zu seiner Frau, die zusammen mit Hanna ihren Pflanzplätz düngte. Dem Mädchen fiel die unangenehme Aufgabe zu, die stinkende Brühe aus dem Abort hinter dem Haus in einen Eimer zu schöpfen, den sie über die Beete leerte, wo die Mutter sie mit einem Rechen verteilte.
Mathis seufzte. Seine Frau war stets die Seele der Familie gewesen. Doch nun lag manches im Argen zwischen ihm und ihr. Barbara hatte ihre Zuversicht und Fröhlichkeit verloren. Zuerst hatte er geglaubt, es handle sich um eine vorübergehende Weiberlaune. Aber dann hatte er realisiert, dass er der Anlass für ihre Verstimmungen sein musste. Tagsüber behandelte sie ihn wie einen Fremden, nachts verweigerte sie ihre eheliche Pflicht. Er wusste nicht, dass sie ihn in jener Nacht beobachtet hatte, als er Dorotheas Stirn geküsst hatte, wusste nicht, dass sie ihm Treulosigkeit und Verrat vorwarf, wusste nicht, dass sie ihm zürnte, weil sie überzeugt war, er habe ihr mit seinem Lerneifer den kleinen Samuel entfremdet.
Mathis und Barbara Jacob waren einfache Leute, die nie gelernt hatten, über Dinge jenseits des Alltäglichen miteinander zu sprechen. Fühlten sie sich vom anderen verletzt, so schwiegen sie, frassen in sich hinein, was sie beschäftigte, und hofften auf bessere Zeiten.
Drüben im Pflanzgarten streckte sich Barbara, um ihren müden Rücken zu entlasten. Sie stiess mit Hanna zusammen, die mit ihrem Kessel voller Fäkalien hinter ihr stand, und schürfte sich dabei an der schartigen Kante des Gefässes wund. Ein Schwall Hüsligülle schwappte über ihren Arm. «Kannst du nicht aufpassen, du ungeschickter Trampel?», schimpfte sie und gab dem Mädchen eine Ohrfeige.
Hanna stellte den Eimer ab und lief davon.
Barbara schaute ihr nach und wischte sich mit der Hand die Bescherung vom Arm. Sie war es gewohnt, beim Düngen mit Scheisse in Berührung zu kommen. Die Wunde, die nur wenig blutete, war kaum der Rede wert.
«Hast du dich verletzt?», wollte Mathis wissen, der die Szene beobachtet hatte.
«Was kümmert dich das?», fragte sie unfreundlich. «Sorg dafür, dass deine Tochter weiterarbeitet!»
Deine Tochter! Er runzelte die Stirn, schwieg aber und ging zum Stall, wo Hanna weinend hinter der Tür stand. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. «Sie hat es nicht so gemeint», sagte er tröstend.
«Natürlich hat sie es so gemeint», schniefte Hanna. «Nichts kann man ihr recht machen. Seit Monaten hat sie für keinen mehr ein gutes Wort.» Und dann, kaum hörbar: «Ich hasse sie.»
Mathis fuhr ihr ungeschickt durchs Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte. «Nun geh schon wieder an deine Arbeit, Kind. An einer Ohrfeige ist noch niemand gestorben.»
Am Abend mochte Barbara nichts essen. Obwohl das Haus die Wärme dieses schönen Frühlingstags gespeichert hatte, zitterte sie am ganzen Leib und fror erbärmlich. Sie legte sich ins Bett und schlotterte unter den Decken, die ihr Martha gebracht hatte.
Am Morgen des Karfreitags hatte sie hohes Fieber. «Es wird schon wieder werden», sagte sie, als Mathis wissen wollte, ob man Doktor Alioth holen solle. «Mach dir keine Sorgen. Ich brauche jetzt einfach etwas Ruhe. Ihr müsst ohne mich zur Kirche.»
Mathis sah seine Frau verwundert an. Ihre Stimme klang anders als in den letzten Monaten: schwach, ängstlich. Ihre Augen flehten um Hilfe. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Sie war mit kaltem Schweiss bedeckt.
Als er und die Kinder gegen Mittag vom Gottesdienst zurückkamen, lag sie blass und kraftlos im Bett. Ihre Brust hob und senkte sich in raschem Rhythmus. Ihr rechter Unterarm war dort, wo sie sich am Kesselrand geschnitten hatte, gerötet. Als Mathis mit dem Zeigefinger darüberfuhr, schrie sie leise auf. «Nicht!» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Das tut weh.» Aber noch immer verweigerte sie starrsinnig den Arzt: «Ich brauche ihn nicht. Morgen werde ich wieder arbeiten. Heute müsst ihr ohne mich auskommen. Lasst mich jetzt in Ruhe.»
Die fünf Kinder, die ums Bett der Mutter standen, schauten sich ratlos an. Dann zuckte Paul mit den Schultern und verliess den Raum. Bis auf Samuel folgten ihm alle, auch Mathis. Der Jüngste kniete sich an den Bettrand und legte seinen Kopf auf die Decke. Die Mutter streichelte seinen Haarschopf. Sie hatte die Augen geschlossen. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um ihre Lippen. Nach einer Weile fiel sie in einen fiebrigen Schlummer. Ihre Hand blieb auf dem Kopf des Kindes. Es wagte nicht, sich zu rühren.
Im Lauf des Karsamstags sah Mathis zwischen der entzündeten Stelle und dem Oberarm der Kranken rote Striche auf der blassen Haut. Barbara schien verwirrt. Sie stammelte Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Er befahl Hanna, nach Langenbruck zu gehen und den Arzt zu bitten, nach Sankt Wendelin zu kommen. Nach zwei Stunden kehrte das Mädchen zurück. Die Alioths seien über die Ostertage zu Verwandten nach Basel gefahren. Ihre Magd erwarte die Herrschaft nicht vor Dienstag zurück.
Der Zustand Barbaras verschlechterte sich zusehends. Ihr Atem ging keuchend. Sie hatte die Augen jetzt meist geschlossen. Mathis, der vergeblich versuchte, ihr etwas von der Brühe einzuflössen, die Martha zubereitet hatte, wusste nicht, ob sie wach war oder schlief.
Einmal, mitten in der Osternacht, umklammerte sie seinen Arm. «Ich höre den Tod hier drinnen trommeln», flüsterte sie und in ihrer Stimme war Panik. «Hier drinnen.» Sie klopfte sich auf die Brust. Dann sank sie zurück ins Kissen und murmelte unverständliche Worte. Ihm schien, sie sei für ihn nicht mehr erreichbar.
Am Ostersonntag war sie leichenblass, und wenn sie die Augen öffnete, so schienen sie tiefer zu liegen als sonst. Die Nase ragte spitz aus ihrem Gesicht.
Mathis, der jetzt wusste, dass sie sterben würde, wich nicht mehr von ihrem Bett. Er dachte daran, wie er um sie geworben und wie der Landvogt ihnen die Heiratserlaubnis verweigert hatte. Die vielen Jahre, die sie zusammen verbracht hatten, zogen an ihm vorbei, die Geburten der Kinder, die guten und die schlechten Tage. Er dachte an die vergangenen Monate, wie sie mit ihm gehadert hatte, und daran, dass es jetzt für eine Versöhnung zu spät war. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Weinte er? Seine Kinder, die eines ums andere die Kammer betreten hatten, sahen es mit Verwunderung.
Am Abend zündete Martha zwei Kerzen an. Samuel presste sich an Hanna, die ihre Hände auf seine schmalen Schultern legte. Der Atem der Sterbenden ging rasselnd. Kurz nach Mitternacht verschied Barbara Jacob.
Am Donnerstag, dem 31. März 1796 stand Dorothea Staehelin unter dem Seitenportal der Kirche von Oberdorf und schaute hinüber zum offenen Grab, in das Mathis Jacob und seine beiden älteren Söhne gemeinsam mit dem verwitweten Emil Strub den Sarg der Ehefrau, Mutter und Tochter an zwei Seilen vorsichtig in die Tiefe hatten gleiten lassen. Es lag nahe an der Mauer, die den Gottesacker umfriedete. Sie standen um die offene Grube: die Jacobs und der Vater der Toten, nur die nächsten Angehörigen, wie es der Brauch war. Alle waren schwarz gekleidet. Mathis hielt sich ein wenig abseits von den anderen. Eine grosse, einsame, barhäuptige Gestalt. Der Talwind bewegte sein dunkles Haar. Das Gesicht hatte er abgewandt, als wolle er sich den Worten, die Pfarrer Grynäus aus der Bibel las, verweigern.
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