«Ihr sagt ‹uns›.» Mathis vermied es, sie anzusehen. «Gehört Ihr dazu?»
«Ja.» Das tönte beinahe leidenschaftlich. Sie fasste ihn am Oberarm. «Und ich hoffe, dass auch Ihr uns anschliesst, so wie der Uhrmacher Wilhelm Hoch und der Orismüller aus Liestal, zwei Landleute, die, wie Ihr, fähig sind, über ihren Stand hinauszudenken.»
Sein Körper versteifte sich. Ihre Berührung erschreckte ihn. Doch dann legte er seine Hand auf die ihre. Sie sahen sich an. Schweigend.
«Dorothe», sagte er leise und küsste sie auf die Stirn.
Sie senkte den Kopf. «Es darf nicht sein», flüsterte sie. «Du bist verheiratet.»
Am Fenster ihrer Kammer, hinter dem Vorhang verborgen, stand Barbara Jacob. Sie hatte nicht einschlafen können. Erst um Mitternacht war Mathis mit Madame und der kleinen Mamsell zurückgekehrt. Sie hatte gehört, wie Dorothea Staehelin ihre Tochter hinaufschickte. Aber ihr Mann war nicht gekommen. Schliesslich hatte sie das Bett verlassen, auf den Hof hinausgespäht und beobachtet, wie Mathis die vornehme Frau küsste. Barbara schien, sie habe sich nicht mehr von ihm lösen wollen.
Als er später die Schlafkammer betrat und zu ihr ins Ehebett stieg, kehrte sie ihm den Rücken zu und stellte sich schlafend. Er realisierte nicht, dass ihre Schultern bebten.
Die Zeit heile alle Wunden, sagt der Volksmund. Barbara Jacob zweifelte daran. Das Bild, wie ihr Mann die vornehme Dorothea Staehelin in jener Nacht auf die Stirn geküsst hatte, liess sie nicht mehr los. Ihr war, als habe sich ein Schatten, der alle Fröhlichkeit erstickte, über sie gelegt. Sie fühlte sich unwert, als sei sie ein Gegenstand, den man fallen gelassen und beschädigt hatte. Zwar nutzte man ihn noch, konnte sich aber nicht mehr über ihn freuen. Obwohl erst achtunddreissigjährig, kam sie sich alt und verbraucht vor. Sie tat, was zu tun war, so, wie sie es immer getan hatte: Sie kochte, putzte und sass am Bandstuhl. Sie besorgte den Pflanzgarten, half auf dem Hof mit, wenn man sie brauchte, aber sie tat es mechanisch, tat es, weil es getan werden musste, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen.
Madame Staehelin und ihre Tochter waren längst wieder in Basel. Das Leben auf Sankt Wendelin ging seinen gewohnten Gang. Ihr Mann war nicht anders als früher, verlässlich, schweigsam – und dennoch hatte sich alles verändert. Er war ihr fremd geworden. Nachts im Bett rückte sie von ihm ab, lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit, weinte in sich hinein. Mathis schien es nicht einmal zu bemerken, spürte nicht, dass sie litt, dass sie welkte wie eine Blume, der es an Wasser mangelt. Er lag neben ihr und schlief, während sie sich danach sehnte, dass er ihr ein liebes Wort schenkte, sie an sich zöge, tröstete und alles wieder gut würde.
Stattdessen schien es ihr, die Familie falle auseinander. Die drei Grossen waren erwachsen geworden. Noch lebten sie zu Hause, aber sie suchten ihren eigenen Weg. Die zwanzigjährige Martha übernahm immer mehr Pflichten im Haushalt. Barbara glaubte manchmal, ihre älteste Tochter versuche, sie zu verdrängen. Dabei wollte sie die Mutter nur entlasten. Sie war ein seltsames Mädchen, untersetzt und stämmig, dabei wortkarg und spröde. Sie zeigte keinerlei Interesse am anderen Geschlecht. In der Kirche schaute sie nie auf die Männerseite hinüber. Wenn ein Bursche aus der Umgebung ihr schöne Augen machte, sie scherzend ansprach, liess sie ihn mit einem strafenden Blick abblitzen. Mit der Zeit mieden sie die jungen Männer. Sie schien es nicht wahrzunehmen und würde wohl als alte Jungfer enden. Erbittert dachte Barbara, dass das wohl nicht die schlechteste Form sei, sein Leben zu leben.
Peter und Paul waren anders. Wenn sie mit ihrem Vater in den schmucken dunkelblauen Uniformen mit den scharlachroten Auf- und Überschlägen zu den Drillübungen der Landmiliz gingen, so konnte man sicher sein, dass Mathis am Abend allein heimkehren würde. Die beiden jungen Männer, vor überschüssiger Kraft strotzend und stössig wie Stiere, trieben sich bis in den frühen Morgen im Dorf herum, zunächst im Wirtshaus, später auf dem Kiltgang. Sie flüsterten den Mädchen durchs offene Fenster unbeholfene Zärtlichkeiten zu und waren selig, wenn sie von einer, die freizügiger war als ihre grosse Schwester, zu einem Glas Kirschwasser eingeladen wurden. Barbara war überzeugt, dass irgendeinmal einer ihrer Söhne einem dummen Ding, wie sie es selber einmal gewesen war, ein Kind anhängen werde, und man konnte nur hoffen, dass der Pfarrer dann seinen Segen dazugeben würde, bevor das arme Würmchen auf der Welt war.
Peter, der zu einem tüchtigen Bauern herangewachsen war, würde wohl dereinst als Pächter den Hof übernehmen und Salome Staehelin die Zinsen zahlen – genau gleich wie jetzt Mathis ihrer Mutter zinste und vor ihm sein Vater dem alten Remigius Preiswerk die Pacht entrichtet hatte.
Der siebzehnjährige Paul interessierte sich für die Ereignisse in Frankreich, weil er gehört hatte, dass dort jeder Soldat den Marschallstab im Tornister trage. Sehr zum Missfallen seines Vaters, der von seinen taufgesinnten Vorfahren eine tiefe Abneigung gegen alles Militärische geerbt hatte, stand für ihn fest, dass er in einem oder zwei Jahren Handgeld nehmen und sein Glück in fremden Diensten suchen würde.
Barbara musste sich eingestehen, dass ihr die drei Grossen entwachsen waren. Und den Jüngsten, Sämi, hatte ihr zuerst Madame und dann ihr eigener Mann entfremdet. Unverdrossen sass dieser jeden Abend mit dem Kleinen am Tisch und liess sich von ihm erklären, was Sebastian Hoffmann ihn und die Grynäus-Kinder tagsüber gelehrt hatte. Wenn Mathis etwas nicht verstand, fragte er nach und liess nicht locker, bis auch er den Schulstoff, dessen Kenntnis die Voraussetzung für Samuels Aufnahme ins Pädagogium bildete, begriffen hatte. Den Jungen erfüllte es mit Stolz, dass er seinen Vater unterrichten durfte. Seit sie Abend für Abend gemeinsam ihre Köpfe über den Fibeln zusammensteckten, tauchte er kaum mehr im rückwärtigen Anbau des Hauses auf, wo Barbara am Webstuhl sass und mehr und mehr in eine Einsamkeit fiel, aus der sie nicht mehr herausfand. Mit verständnisloser Verwunderung verfolgte sie den verbissenen Lerneifer ihres Mannes, mit dem er, wie sie sich einredete, nichts anderes als Dorothea Staehelin imponieren wollte.
Auch Hanna war unglücklich. Ebenso wie die Mutter spürte sie den Zerfall der Familie. Die Eltern hielten die Sechzehnjährige kurz. Sie durfte sich nicht wie die älteren Brüder in Waldenburg herumtreiben. Martha, die ihren Fragen verständnislos gegenüberstand, gab sich kaum mit ihr ab. Auch Sämi, um den sie sich früher oft gekümmert hatte, brauchte sie nicht mehr. Anfangs hatte sie sich zum Vater und dem kleinen Bruder an den Tisch gesetzt. Doch was die beiden zu besprechen hatten, verwirrte sie. Auch bei der Mutter, die am Bandstuhl Trübsal blies, hielt es sie nicht lange. Vom Hof kam sie nur weg, wenn sie für Madame Staehelin oder die Eltern im Städtchen etwas besorgen musste. Hanna war von Natur aus ein lebenslustiges Wesen, aber jetzt, wo auf Sankt Wendelin kaum mehr fröhliche Worte gewechselt wurden, wo alle anderen mit sich selbst beschäftigt waren, kam sie sich überflüssig vor. Sie verlor sich in Tagträumereien und baute sich eine eigene versponnene Welt auf.
Unberührt von den grossen und kleinen Sorgen der Leute von Sankt Wendelin schritt das Jahr voran. Als man das Getreide eingebracht hatte, als die reifen Äpfel, Birnen und Nüsse geerntet waren und als nach dem dritten Schnitt das Vieh zum Nachweiden auf Wiesen getrieben wurde, kündeten die zarten, blasslila Blüten der Herbstzeitlosen die dunkle Jahreszeit an. Die Zugvögel hatten sich längst Richtung Süden verabschiedet, und in der Abenddämmerung hörte man das dumpfe Brüllen brünstiger Hirschstiere.
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