»Hast du nun endlich etwas gefunden?« murrte Nico ungeduldig.
»Ich habe«, bestätigte ich und faßte das Ergebnis meiner Lektüre kurz zusammen. »Mit den Bilchen ist es ähnlich wie mit dem Kuckuck: Gehört haben ihn die meisten, gesehen nur ganz wenige. Dabei sind Bilche in ihrem Verbreitungsgebiet wirklich deutlich genug zu hören. Vor allem dann, wenn sie sich auf Dachböden und Speichern einnisten und dort oben herumtoben und rumoren, daß man zwar alle möglichen Geister und Spukgespenster vermutet, nur eben Bilche nicht. Na, bitte!«
»Hmmm«, machte Nole. »Wenn das sogar wissenschaftlich feststeht, ist unser Großer Geist wirklich ein Bilch. Das finde ich ausgesprochen nett. Und außerdem hatten wir offenbar sehr großes Glück, tatsächlich einen gesehen zu haben.«
»Und ich habe ihn entdeckt«, erklärte Nico mit offensichtlichem Stolz.
»Ich werde es gebührend vermerken«, brummte ich. »Und jetzt Schluß der Debatte!«
Entschlossen packte ich die Bücher wieder an ihren Platz und legte mich bequem zurecht. Nole löschte die Taschenlampe und wünschte eine Gute Nacht. Und – als sei das ein Stichwort, begann der Große Geist wieder herumzuspuken.
»Da ist er wieder!« verkündete Nico erfreut. »Und dabei fällt mir etwas ein, Paps. Es gibt doch eine Menge Geschichten über lärmende Gespenster und spukende Poltergeister. Könnte es nicht sein, daß die Leute, die so was behaupten, in Wirklichkeit Bilche gehört haben? Das wäre doch eine vernünftige Erklärung! Und damit wären dann eigentlich die Bilche der Ursprung für alle diese schauerlichen Poltergeistgeschichten. Was hältst du davon?«
Ich hielt zwar im Moment mehr vom Schlafen, wollte aber meinen Sohn nicht enttäuschen. Außerdem schien mir das ein durchaus logischer Schluß. Deshalb antwortete ich:
»Eine interessante Theorie. Vielleicht solltest du dir dieses Thema später für deine Doktorarbeit wählen. Das Problem dabei ist nur, ob es in die Literaturwissenschaft oder in die Zoologie gehört. Aber das können wir vielleicht später klären.«
»Das finde ich auch«, mischte Nole sich ein. »Immerhin dürfen Siebenschläfer meines Wissens ganze sieben Monate im Jahr verschlafen, ich aber noch nicht mal eine Nacht. Und ich finde es sehr unfein, daß ausgerechnet ein Schläfer mich am Schlafen hindert.«
Damit hatte sie wieder einmal recht. Und nachdem wir drei einstimmig den Beschluß gefaßt hatten, den Rest der Nacht schlafend zu verbringen, taten wir es auch. Das heißt: wir versuchten es zumindest. Denn – der Große Geist blieb offenbar bei seiner Absicht, uns seine Anwesenheit auch weiterhin ins Gedächtnis zu poltern.
Eigentlich gehöre ich nicht zu den Menschen, die vom Frühaufstehen sonderlich begeistert sind. An diesem Morgen aber trieb es mich gegen fünf Uhr aus den Federn, trotz der zahlreichen nächtlichen Polterspäße. Als ich die Augen öffnete, schimmerten die drei riesigen dunklen Fichten vor dem Fenster in einem fast unwirklich strahlenden Morgenlicht. Was kein Mensch zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten: Die Sonne schien. Sie schien, trotz der Morgenkühle, unwahrscheinlich warm und lockte einen geradezu fantastisch-intensiven Duft aus den Wäldern. Mit einem Schlag war ich hellwach und beschloß, diese möglicherweise einmalige Gelegenheit zu nutzen und zumindest die nähere Umgebung in Richtung Rachelsee bei Morgenstimmung zu erkunden.
Aber natürlich blieb auf den knarrenden Dielen unserer hölzernen Behausung meine morgendliche Aktivität nicht unbemerkt.
»Spielst du vielleicht jetzt zur Abwechslung mal Großer Geist?« fragte Nole verschlafen. »Wie spät ist es denn überhaupt?«
»Guten Morgen!« verkündete ich fröhlich. »Es ist kurz vor fünf.«
»Verrückt so was!« knurrte Nico unter seiner Decke hervor. »Noch nicht mal in den Schulferien kann man ausschlafen!«
»Recht hat er!« sekundierte Nole.
»Ihr könnt!« antwortete ich beruhigend. »Aber ich werde eine Morgenexkursion unternehmen. Gleich bin ich verschwunden. Also schlaft schön weiter.«
Mit diesen Worten verschwand ich durch die Tür, um mich unten einer Kaltwasserkur zu unterziehen. Doch als ich zurückkam, hatte sich Nico ebenfalls aus dem Bett bequemt und erklärte:
»Ich gehe mit!«
»Ich auch«, sagte Nole. »Schlafen kann man schließlich auch bei Regenwetter. Außerdem muß ich ja Frühstück machen.«
Mir war das nur angenehm. Und nach kurzem Imbiß stiefelten wir los, bewaffnet mit Fotoapparat und Fernglas, über den Dammweg der alten Triftklause, wo uns eine offenbar verspätete Erdkröte begegnete, die gemächlich dem Uferdikkicht zustrebte.
»Guten Morgen, du Krötling«, grüßte Nico freundlich und betrachtete aufmerksam das für uns selten zu beobachtende Tier.
Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten, die Kröten eklig finden, mochten wir Kröten ausgesprochen gern: Sie haben so etwas Gemütlich-Behäbiges. Und natürlich wußten wir auch, daß sie als ausgesprochen nützlich gelten. Aber das interessierte mich weniger. Ich hielt überhaupt nichts von der schematischen Einteilung nach Nützlingen und Schädlingen: Schließlich haben alle Lebewesen im Gesamthaushalt der Natur ihre Funktion, vorausgesetzt, daß das natürliche Gleichgewicht nicht durch menschliche Eingriffe gestört worden ist. Und konsequenterweise müßte dann der Mensch als schlimmster Schädling der Natur eingestuft werden, was er ja seit Generationen schlagend bewiesen hat und täglich aufs Neue beweist. Aber so was hören unsere Zeitgenossen bekanntlich nicht sehr gern.
Der Kröte allerdings waren solche Überlegungen fremd. Und mit unfreundlichen Menschenfüßen hatte sie wohl noch keine Bekanntschaft gemacht. Sie zog unbekümmert des Weges ihrem Schlupfwinkel zu.
»Sag mal, Paps?« fragte Nico, als wir ebenfalls weitergingen. »Hat der freundliche Ordnungsdienstmann, der uns gestern hier hochbrachte, nicht davon gesprochen, daß die alte Triftklause neben der Racheldiensthütte trocken gelegt werden soll?«
»Hat er«, bestätigte Nole. »Es wäre schade drum.«
Auf Nicos Stirn bildete sich eine Zornesfalte.
»Das verstehe ich nicht, Paps. Was soll denn dann aus all den Tieren werden, die am und im Wasser leben? Damit würde doch ein wichtiges Biotop zerstört!«
»Eben«, brummte ich. »Schließlich ist ein Biotop ein durch bestimmte Pflanzen- und Tiergesellschaften gekennzeichneter Lebensraum. Und wenn hier das Wasser verschwindet, verschwindet auch die spezifische Pflanzen- und Tierwelt. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß hier jemand so etwas ernsthaft in Erwägung zieht. Wir sind immerhin in einem Nationalpark.«
Nico warf mir einen schrägen Blick zu.
Er wußte natürlich genausogut wie ich, daß Nationalparks Landschaftsräume sind, die wegen ihres ausgeglichenen Naturhaushalts, ihrer Bodengestaltung, ihrer Vielfalt oder ihrer Schönheit überragende Bedeutung besitzen und die vornehmlich der Erhaltung und wissenschaftlichen Beobachtung natürlicher und naturnaher Lebensgemeinschaften, sowie eines möglichst artenreichen heimischen Tier- und Pflanzenbestandes dienen. Und daß sie der Bevölkerung zu Bildungs- und Erholungszwecken zu erschließen sind, soweit es der Schutzzweck erlaubt. So war es in leicht grauslichem Amtsdeutsch im Bayerischen Naturschutzgesetz von 1973 verankert. Doch das Nationalparkgebiet war keine reine Urlandschaft mehr. Auch hier hatte der Mensch bereits spürbar eingegriffen. Und dazu gehörten auch die Triftklausen, die im neunzehnten Jahrhundert künstlich errichtet worden waren, und deren Stauwasser die Abtrift des geschlagenen Holzes über die zu Tal fließenden Bergbäche wesentlich erleichterte. So gesehen bildeten die Triftklausen also im Grunde vom Menschen geschaffene Fremdkörper im Naturwald. Andererseits existierten sie nun schon mehr als hundert Jahre und spielten für den Wasserhaushalt des Waldes eine wichtige Rolle. Außerdem wußten wir, daß die Dämme einiger Triftklausen sogar erneuert worden waren, um sie auch weiterhin zu erhalten. Es war also nicht einzusehen, warum ausgerechnet die Triftklause an der Racheldiensthütte verschwinden sollte. Sie paßte dort in die Landschaft, fanden wir.
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