1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Immerhin war die bundesdeutsche Elf mit 4:0 Punkten und 4:0 Toren bereits sicher für die zweite Finalrunde qualifiziert. Im letzten Spiel gegen die Auswahl der DDR ging es dann lediglich noch um den Gruppensieg. Die Stars aus dem Westen hätten in diesem ersten offiziellen deutsch-deutschen Länderspiel eigentlich befreit aufspielen können. Doch statt selbstbewusst aufzutrumpfen, verfielen sie in Überheblichkeit und überließen das Kämpfen ihren Gegnern. Elf Minuten vor dem Abpfiff gelang Jürgen Sparwasser mit dem Treffer zum 1:0 die riesige Sensation: Westdeutschlands Superstars waren von biederen DDR-Amateuren düpiert worden.
»Nach der ersten Finalrunde dieser Weltmeisterschaft blieb es niemandem verborgen: Wir, der große Favorit im eigenen Land, waren am Boden zerstört«, resümierte ein zerknirschter Uli Hoeneß. »Intern zerstritten; von außen wurden manche Reibereien noch geschürt. Alle anderen Mannschaften wurden uns als leuchtende Beispiele unter die Nase gerieben; man schrieb uns als Versager fast ab.« Nach heftiger Presse-Kritik an Helmut Schön avancierte nun Kapitän Franz Beckenbauer als eine Art Neben-Bundestrainer zu dem Mann, der die wichtigen Entscheidungen forcierte. Man verabschiedete sich von der Idee, jenen Angriffsfußball, mit dem die westdeutsche Auswahl vor zwei Jahren triumphal zum Europameistertitel geeilt war, fortsetzen zu wollen. Dies hatte auch Personalentscheidungen zur Folge: Zum einen wurde die Frage nach dem Mittelfeld-Regisseur nun endgültig zugunsten des fleißigen Kölners Wolfgang Overath entschieden, sodass der Kurzeinsatz des defensivfaulen Günter Netzer gegen die DDR der letzte und einzige WM-Auftritt seiner Karriere blieb; und zum anderen wurde Uli Hoeneß, der im Spiel gegen die DDR seinen Defensivpart zum wiederholten Mal recht nachlässig interpretiert hatte, eine Denkpause verordnet. Beckenbauer, beschwerte er sich beleidigt, habe ihm die ganze Schuld an der Niederlage gegen die DDR aufgebürdet. »Als er sagte, einige hätten nicht genug gekämpft, hat er mich gemeint.« Tatsächlich hatte sich Hoeneß wegen einer schon kurz nach Spielbeginn erlittenen Oberschenkelprellung recht schwerfällig über den Platz geschleppt. »Ich hätte mich austauschen lassen müssen«, bereute er hinterher seine Entscheidung, sich durchzubeißen.
Drei Spiele, drei enttäuschende Auftritte, und dann auch noch auf die Bank verbannt – diese WM war bislang wahrlich nicht das Turnier des Uli Hoeneß. Schöns Assistenztrainer Jupp Derwall erinnerte sich an die Olympischen Spiele, wo der Bayern-Stürmer in ähnlicher Weise versagt hatte. »Es ist mir unerklärlich, wie ein so intelligenter Junge die ihm aufgetragene taktische Order im Spiel missachten kann. Anstatt seine Aufgabe zu erfüllen – und das muss bei einem Mittelfeldspieler auch heißen, den direkten Gegner zu decken –, kurvte er vorne in der Landschaft herum. Noch erstaunlicher ist, dass dies Uli Hoeneß bei der Weltmeisterschaft zum zweiten Mal passierte. Er gehört einfach zu den Spielern, die ihre Intelligenz nicht auf das Spielfeld übertragen können.«
Vor dem Auftaktspiel der zweiten Finalrunde gegen Jugoslawien im Düsseldorfer Stadion wirkte der Bankdrücker Hoeneß zwar äußerlich gelassen, in ihm aber kochte die Wut des in seinem Ehrgeiz Gekränkten. Hoeneß sah, wie Paul Breitner die Bundesrepublik mit seinem 1:0 in der 39. Minute auf die Siegerstraße brachte, und war hoch motiviert, als er nach einer Stunde von Bundestrainer Schön das Zeichen bekam, sich für die Einwechslung bereit zu machen. Als er für den Gladbacher Dauerläufer »Hacki« Wimmer aufs Feld kam, rannte er wie um sein Leben und hatte mit seinem unbändigen Kampfgeist entscheidenden Anteil an der Sicherstellung des Sieges. In der 77. Minute startete er unwiderstehlich bis zur Torauslinie durch und passte den Ball von dort zu Gerd Müller zurück, der zum vielumjubelten 2:0 verwandelte. Bundestrainer Helmut Schön freute sich über das Wiedererstarken seines Stürmers ganz besonders, denn es bestätigte seinen pädagogischen Plan: Die Verbannung auf die Bank war eine ganz bewusst eingesetzte Erziehungsmaßnahme, um dem schwächelnden Hoeneß einen Motivationsschub zu verpassen.
Am Sonntag, den 30. Juni, kehrte im Spiel gegen die starken Schweden schließlich auch die Euphorie auf die Ränge zurück. Es regnete in Strömen, aber trotzdem war die Stimmung toll, die Mannschaft ließ sich davon anstecken und kämpfte aufopferungsvoll – wenn auch zunächst vergeblich. Obwohl es mit einem 0:1-Rückstand in die Pause ging, zeigte sich im Stadion niemand verzagt, und auch drinnen in der Kabine, wo die Spieler die durchnässten Trikots und Hosen wechselten, war nichts von Selbstaufgabe zu spüren. »Wir waren alle davon überzeugt«, so Uli Hoeneß, »dass wir die Schweden noch packen.« Gleich nach Wiederanpfiff schossen Overath und Bonhof eine 2:1-Führung heraus, dann konnten die Schweden zum 2:2 ausgleichen, nach einer kurzen Phase der Verunsicherung erzielte Grabowski das 3:2. Hoeneß war an allen drei Treffern als Vorbereiter beteiligt, den Schlusspunkt setzte er schließlich selbst, als der Schiedsrichter in der 89. Minute auf den Elfmeterpunkt zeigte: Anlauf – Antäuschen – Torwart Hellström links – Ball rechts – 4:2. Es war kein Sieg mit der Brechstange wie gegen Jugoslawien, sondern ein auch mit spielerischen Mitteln erzielter Erfolg, der ein wenig an den Elan der Europameister-Elf von 1972 erinnerte. Und Uli Hoeneß hatte diesmal sogar in der Defensive überzeugen können, insbesondere in den Duellen mit seinem Vereinskollegen und Konkurrenten Conny Torstensson.
Im WM-Quartier Sportschule Kaiserau herrschte endlich wieder gute Stimmung. Am Abend gaben die Stimmungskanonen der Truppe, die beiden Assistenten Derwall und Widmayer, Fußballlieder zum besten. »Und wir sangen fleißig mit«, berichtete Uli Hoeneß. »Ich erinnerte mich an meine Jugendzeit in Ulm, als wir nach jedem Sieg im Vereinsheim glücklich zusammensaßen und das Hochgefühl gemeinsam auskosteten.« Den Weg ins Finale versperrten jetzt nur noch die starken Polen. Im deutschen Lager war man zuversichtlich: Aufgrund des besseren Torverhältnisses würde ein Unentschieden genügen für den ersten Platz in der zweiten Finalrunde und damit für den Einzug ins Endspiel. Nur: Wie sollte man überhaupt spielen? Starker Regen hatte den Rasen in Frankfurt in einen See verwandelt, der Terminplan ließ aber keine Verschiebung des Spiels zu. Man versuchte, die Wassermassen mit Walzen zu beseitigen, doch als das Spiel mit 30-minütiger Verspätung angepfiffen wurde, konnte von regulären Verhältnissen immer noch keine Rede sein.
So kam es zur »Wasserschlacht von Frankfurt«, in der die Polen enorm stark aufspielten, aber immer wieder von einem unüberwindbaren Sepp Maier am Torerfolg gehindert wurden. Dann die 53. Minute: Elfmeter für Deutschland. Uli Hoeneß trat an. »Den Augenblick werde ich wohl nicht mehr aus meiner Erinnerung streichen können«, war er hinterher untröstlich. »Den Augenblick, als ich gegen Polen Anlauf zum Elfmeter nahm. Und dann, als mir der Schuss verunglückte, ein Schuss, bei dem Torhüter Tomaszewski auch keine Probleme gehabt hätte, wenn er statt seiner Arme eine Mütze zu Hilfe genommen hätte.« Der gescheiterte Elfmeterschütze war am Boden zerstört, wurde aber von den anderen gleich wieder aufgemuntert. Beckenbauer lief herbei und rief: »Uli, das macht nichts, das kann jedem von uns passieren. Jetzt erst recht, reiß dich zusammen!« Und Uli riss sich zusammen. »Wie auf Kommando rannte ich los, ich gab mich aus bis zur Erschöpfung. Für die gesamte Mannschaft war mein Versager eine Art Fanal, keineswegs lähmte er uns. Gegenspieler Maszczyk schimpfte einige Sätze auf Polnisch, als ich ihm einmal den Ellbogen in den Leib stieß. Mir war alles egal, ich wollte meinen Fehler wieder gutmachen.« In der 76. Minute beendete schließlich Gerd Müller mit seinem Tor zum entscheidenden 1:0 den Nervenkitzel.
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