Ich konnte mittlerweile recht gut Schweizerdeutsch sprechen, aber seinen Erwartungen konnte ich trotzdem nicht gerecht werden. Als ich wieder einmal nicht schön genug geschrieben hatte, schlug er mir mit voller Wucht auf die Fingerspitzen. Ein brennender Schmerz lähmte meine Hand. Aber noch mehr verletzten mich seine Worte: »Du bist zurückgeblieben! Du bist behindert!«
Behindert? Ich? Kinder können ohnehin nicht mit Sarkasmus umgehen, aber Herr Steinbeis meinte seine Diagnose ernst. Er wiederholte gegenüber meinen Eltern, dass ich offenkundig geistig behindert sei, da ich auch allgemein schlechte Noten hatte. Eine Farce eigentlich, aber meine Eltern waren erschüttert. Schließlich hatten auch sie als Ausländer Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, wenn die NA an Einfluss gewinnen sollte. Mein Vater schärfte mir ein: »Sei brav, damit wir nicht aus der Schweiz rausfliegen, wir wollen doch hierbleiben.« Das leuchtete mir ein. Mein Vater konnte hier die Familie besser versorgen und die Schweiz gefiel mir, deshalb wollte ich auch gerne hierbleiben, obwohl ich so unter dem Lehrer litt.
Tag für Tag musste ich mir Tiraden eines Lehrers anhören, der mich für minderwertig hielt, ebenso wie meine italienischen Mitschüler. Obwohl ich mir viel Mühe gab, kritisierte er mich ständig. In der zweiten Klasse stürzten meine Leistungen derart ab, dass ich begann, die Schule zu schwänzen. Besonders das Fach Mathematik bereitete mir Schwierigkeiten. Dass meine Schwäche im Umgang mit Zahlen einmal dazu beitragen würde, dass ich eine Bank überfalle, hätte aber wohl selbst Herr Steinbeis nicht gedacht.
Ich passte damals schlicht nicht ins System, war überfordert von dem, was verlangt wurde, und Herr Steinbeis war eher hinderlich als hilfreich. Ich schweifte in Gedanken oft sehr weit ab vom Unterrichtsgeschehen und träumte vom Opapa-Garten, vom Hof im Berner Oberland, an den ich so viele schöne Erinnerungen hatte. Ich schaute oft aus dem Fenster, bis ich – zack! – wieder einen Steinbeis’schen Zusammenschiss der übelsten Sorte bekam.
Heute weiß ich, dass die Pädagogen damals viel zu stark an Defiziten hingen und zu wenig auf die Ressourcen sahen. Wer ständig nur beschimpft und auf seine Schwächen reduziert wird, kann kaum eine selbstsichere Persönlichkeit entwickeln. Als heutiger ADHS-Coach gehe ich stark davon aus, dass bei mir wohl auch eine solche Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vorlag. Damals kannte man diese Diagnose noch nicht, ich galt schlicht als »Zappelphilipp«. Natürlich brauchen Kinder eine gewisse Strenge, aber diese sollte sich nicht durch Affekte, Wut- oder gar Gewaltausbrüche äußern, sondern durch Konsequenz und gleichzeitige Empathie. Kinder brauchen Leitplanken, um den richtigen Weg zu finden, aber wir müssen ihnen als Erzieherinnen und Erzieher, als Eltern und Lehrkräfte immer wieder bestätigen: »Ich hab dich gern, du bist ein tolles Kind und du hast gerade in diesem und jenen Bereich tolle Fähigkeiten.«
Auszubildenden rate ich, sich immer drei positive Eigenschaften über ein Kind zu merken, das sie betreuen. Wenn sie dann Kritik äußern müssen, sollten sie das Sandwichverfahren anwenden: Erst das Positive loben, dann das Negative ansprechen und mit einem Verbesserungstipp garnieren, um mit einem Hinweis auf das Positive zu enden. Der heranwachsende Mensch merkt so: Es geht um die Sache, nicht um mich als Person. Ich bin wertvoll, auch wenn ich nicht alles schaffe.
Ab der zweiten Klasse begann ich, mich zurückzuziehen. Ich fühlte mich als einsamer Wolf, begab mich gerne in Traumwelten und las viel. Vor allem faszinierten mich Geschichten von Verstoßenen, die sich durchkämpften und in der Welt durch ihre Kraft behaupteten. Das Buch »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler verschlang ich gleich mehrfach.
Wanja ist im ganzen Dorf als Taugenichts und Faulpelz bekannt. Er sondert sich ab und futtert Sonnenblumenkerne, bis er eines Tages genug Kräfte gesammelt hat, um auf einer lange vorbereiteten Wanderung die härtesten Prüfungen zu bestehen. Schließlich rettet er die Dorfbewohner vor einem schrecklichen Ungeheuer, wehrt sich gegen böse Räuber und alle Unbill dieser Welt, hebt einen Schatz und heiratet die Tochter des Zaren. Ein Ausgestoßener, der mit ungeheurer Stärke und Willenskraft beweist, dass ihn alle unterschätzt haben – darin fand ich mich wieder. Wanja, das war ich, das wollte ich sein!
Vor allem von meinen Eltern fühlte ich mich damals verlassen. Wenn ich eine schlechte Note bekam, schimpfte meine Mutter mit mir. Wenn ich eine Strafaufgabe machen musste und mein Vater davon Wind bekam, verprügelte er mich. Regelmäßig kam ich mit einer 1 oder 2 nach Hause, in der Schweiz die schlechtesten Zensuren. Ich wusste, dass mein Vater mich schlagen würde, deshalb machte ich auf dem Nachhauseweg viele Umwege, baute aus Lehm und Blättern einen Staudamm am Bach, verspätete mich um Stunden. Doch all das half nichts. »So, in die Stube mit dir!«, sagte mein Vater, wenn ich nach Hause kam. »Was hast du diesmal angestellt?« Er schloss die Tür, damit meine Geschwister mich nicht sahen, meine Schreie hörten sie trotzdem.
Leider war es für ihn mit ein paar gezielten Schlägen nicht getan. Mein Vater gab mir erst eine Backpfeife und beschimpfte mich: »Du bist ein Versager!« Dann redete er sich in Rage, schlug mich währenddessen immer wieder, boxte mich in meine Schulter, den Rücken und den Oberschenkel. Manchmal zückte er seinen Ledergürtel. »Bitte nicht, ich will mich bessern«, flehte ich. Aber es knallte einfach nur. Manchmal kam es mir vor, als arbeite er sich eine ganze Stunde an mir ab, aber es waren wahrscheinlich nur zehn bis fünfzehn Minuten. Danach verkroch ich mich ins Bett und fühlte mich unfassbar einsam.
»Du bist ein Versager!« Das brannte sich in mir während meiner Grundschulzeit ein.
Meine Schwester war eine hervorragende Schülerin, meine Eltern förderten sie nach Kräften. Ich hingegen fühlte mich als Nichtsnutz und zog mich in meine Welt zurück. Neben den Büchern waren das auch meine Modellflugzeuge. Ich konnte stundenlang in diese besondere Welt eintauchen. Vor allem Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg hatten es mir angetan. Wenn ich etwas Geld gespart oder zum Geburtstag bekommen hatte, zog ich sofort in den Spielwarenladen und besorgte mir ein neues Modell. Die Firma Faller verkaufte damals Bausätze aller möglichen Autos, Schiffe und Flieger. Die kleineren hatten eine Spannweite von zehn Zentimetern, die größeren wie das Space Shuttle mit mehreren Hundert Teilen maßen bis zu vierzig Zentimeter.
Wenn ich die Packung öffnete, stieg meine Freude ins Unermessliche. Aus einem Plastikrahmen schnitt ich die vorgestanzten Teile heraus. Die besonders filigranen Teile wie die Antenne, das zerbrechliche Fahrwerk oder die Fensterscheiben manövrierte ich in Engelsgeduld mit einer spitzen Pinzette aus dem Rahmen. Anschließend fügte ich die Teile nach einer Anleitung in stundenlanger Arbeit mit Spezialklebstoff vorsichtig zusammen. Später lackierte ich den Flieger, ich zog feine Linien und tupfte die Tarnfarben auf, unten Waldgrün, oben Himmelblau. Ich fügte die Hoheits- und Geschwaderabzeichen hinzu, bis schließlich das fertige Prachtexemplar vor mir stand.
Ich genoss das Gefühl tiefer Zufriedenheit, wenn ich wieder ein neues Flugzeug fertiggestellt hatte, »Stukas«, die Sturzkampfflugzeuge vom Typ Ju 87, Messerschmitt-Jagdflugzeuge oder auch größere Bomber. Mit meinen eigenen Händen hatte ich etwas geschafft! Das gab mir Selbstvertrauen. Mein Lieblingsflugzeug war die britische Spitfire, von der ich gleich mehrere Modelle in verschiedenen Größen hatte. Sie war für mich die Vollendung eines Flugzeugs, die geschwungenen Linien ließen das Modell so aussehen, als sei es aus einem Guss. Britisches Design at its best.
Während ich das Modell in der Hand hielt, stellte ich mir vor, selbst im Cockpit zu sitzen und in 8 000 Metern Flughöhe die wolkenlose Freiheit zu genießen. Auch die militärische Stärke zog mich an. Einmal den engen Räumen dieser Welt zu entfliehen und mich selbst mit eigener Stärke zu beweisen, das war mein großer Traum.
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