Irgendwann erbarmte sich ein Passant und nahm mit auf die Polizeiwache. Die Beamten trösteten mich und gaben mir Schokolade. »Mama und Papa kommen bestimmt bald, Bub«, sagten sie. Ich war noch zu jung, um den Polizisten meine Adresse in der Castellezgasse zu nennen, doch die Beamten behielten Recht. Nach einiger Zeit erschienen tatsächlich meine Eltern. Erleichtert klammerte ich mich ganz fest an sie.
Die Geldsorgen meiner Eltern wuchsen, denn mein Vater fand nur schlecht bezahlte Jobs, die uns als Familie gerade ernähren konnten. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater hatten wunderbare Kindheitserinnerungen an ein Land, das von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont geblieben war: die Schweiz. Nur wenige Städte waren hier durch amerikanische oder britische Bomber zerstört worden. Alle mussten zwar wegen der fehlenden Auslandsaufträge den Gürtel enger schnallen, doch in den umliegenden Staaten litten die Menschen ungleich mehr. Die Eidgenossen, die für ihre diplomatische Neutralität bekannt sind, hatten nach dem Krieg viele österreichische Kinder aufgenommen, um sie aufzupeppeln. Unabhängig voneinander waren meine Eltern beide einige Monate als Kinder dort untergebracht. Es muss für sie wie ein Schlaraffenland gewesen sein. Immer gab es genug – und leckeres! – Essen, die Schweizer empfingen sie herzlich und gastfreundlich. Außerdem gab es natürlich die feine Schweizer Schokolade, gegen die unser österreichisches Pendant nichts war. Und diese Köstlichkeit gab es in der Schweiz auch noch in rauen Mengen!
Mein Vater muss noch seine erste Tafel Schweizer Schokolade vor Augen gehabt haben, als er die Entscheidung traf, in unserem Nachbarland sein Glück zu suchen. Zudem war seine ältere Schwester mit einem Bündner Arzt verheiratet, der eine Arztpraxis in Zürich betrieb. Sein älterer Bruder hatte sich in Genf niedergelassen und betrieb dort ein Teppich- und Tapetengeschäft. Dort konnte mein Vater aushelfen, bis er eine richtige Stelle fand.
In den 1960er-Jahren begann der große Autobahnbau quer durch die Alpenrepublik. Die Schweizer planten unzählige Kilometer an asphaltierter Strecke, von denen etliche mittels Tunnel durch die Berge führen sollten. Dafür suchten sie Baumaschinenmechaniker – genau das Richtige für meinen Vater. Er sprach vor und erhielt tatsächlich einen Job. Binnen kurzer Zeit konnte er sich ein Auto leisten, einen VW Käfer. Mein Vater verließ uns also erneut, aber diesmal sorgte er verantwortungsvoll für meine Mutter und mich, die wir zunächst in Wien blieben.
In meiner Mutter wuchs die Sehnsucht, ebenfalls in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen, ohne die Peinigungen der Schwiegermutter, ohne ihr altes Umfeld, das sie an die Nöte und Sorgen erinnerte. Sie wollte weg aus Österreich. Als ich etwa sechs Jahre alt war, traf meine Mutter eine Entscheidung: Sie zog samt meiner kleinen Schwester ebenfalls in die Schweiz. Ich dagegen blieb in Wien. Ohne Vater, ohne Mutter. Meine Omama, bei der ich nun wohnte, wurde meine Hauptbezugsperson.
Es mag sich seltsam anhören, aber aus meiner kindlichen Sicht traf es mich nicht sonderlich, dass meine Eltern mich zurückließen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich meine kleine Schwester beneidet hätte, weil sie bei Mama bleiben durfte. Mama und Papa hatten eben so entschieden, daran ändern konnte ich nichts. Außerdem fühlte ich mich wohl in Wien, zu meiner Omama hatte ich eine innige Beziehung. Mich umgaben Menschen, die mich liebten. Für mich war die Welt in Ordnung. So dachte ich lange.
Inzwischen frage ich mich: Habe ich meine Empfindungen von damals verklärt? Habe ich es wirklich mit stoischer Ruhe akzeptiert, dass meine Eltern mich zurückgelassen haben? Heute wissen wir viel mehr darüber, wie wichtig es ist, dass Kinder eine Bindung und ein Urvertrauen entwickeln. Die ersten Lebensjahre geben entscheidende Einflüsse mit, die ein ganzes Leben lang nachhallen, im Guten wie im Schlechten.
In Wien kam ich in die erste Klasse, aber kurz darauf kam der nächste Einschnitt: Nach einem Vierteljahr holten meine Eltern mich in die Schweiz. Ich verabschiedete mich von meiner Heimat und meiner geliebten Omama, denn jetzt begann ein neues Kapitel. Unsere Familie war wieder vereint.
Wir wohnten in einem kleinen Bauernweiler mit einer Handvoll Häusern, der ungefähr fünf Kilometer von einer Kleinstadt entfernt lag, weil mein Vater dort ein günstiges Zimmer gefunden hatte. Von hier fuhr er die diversen Baustellen an, auf denen er arbeitete. Zu dieser Zeit begann mein Vater ein neues Hobby: Er kaufte sich eine Modelleisenbahn. Schon in frühester Kindheit hatten mich Züge aller Art fasziniert, umso stolzer war ich, als ich zusammen mit meinem Vater eine ganze Anlage aufbauen konnte. Unsere Eisenbahn war für mich das tollste Spielzeug überhaupt.
Ich erinnere mich gut an meinen ersten Schultag in der Schweiz. Die Schule lag mitten in der Landschaft auf einer kleinen Anhöhe und die Schüler strömten aus den vielen Weilern der Umgebung herbei. Die Lehrerin empfing mich freundlich und zeigte viel Einfühlungsvermögen. Zunächst sollte ich mich vorstellen. Das tat ich natürlich in breitestem Wienerisch. »Der Ruedi hat einen anderen Dialekt als ihr«, sagte die Lehrerin zu meinen Mitschülern. »Bitte nehmt Rücksicht auf ihn. Schon bald wird er auch unseren Berner Dialekt sprechen können.« Ich fühlte mich wohl und akzeptiert. Schnell fand ich Freunde, deren Väter überwiegend als Bauern arbeiteten. Wir spielten Fangen, bauten uns aus Ästen und Zweigen ein Hüttchen am Waldrand und schlürften dort Pfefferminztee. Eine echte Idylle.
Leider war es damit bald wieder vorbei. Als ich sieben Jahre alt war, geriet mein Vater mit den Bauern in Streit. Sie beschuldigten ihn des Diebstahls. Er stritt die Vorwürfe ab und erklärte, er habe keinen Diebstahl nötig. Doch eine Zukunft an diesem Ort war nur noch schwer denkbar. Deshalb kam es ihm gerade recht, dass sein Chef ihn fragte, ob er zum weiteren Autobahnausbau in die Ostschweiz versetzt werden wolle. Mein Vater nahm das Angebot an.
Ein weiteres Mal hieß es umziehen. Aus der Idylle des Berner Oberlandes, wo ich mich sowohl in der Schule als auch mit meinen Freunden sehr wohlfühlte, ging es nun in den Kanton St. Gallen in der Ostschweiz.
Hier brach für mich eine Zeit des Leidens und der Zurücksetzung an. So warm mich meine Lehrerin im Berner Oberland in Empfang genommen hatte, so viel Kälte schlug mir in der Schule im Kanton St. Gallen entgegen. Ich weiß noch wie heute, wie unser Lehrer das Klassenzimmer betrat. Ein hagerer Typ, groß gewachsen, kühler Blick, bieder in braungraue Anzüge gekleidet, die Krawatte durfte niemals fehlen. Herr Steinbeis hieß er, und sein Name war Programm. Er hatte eine regelrecht fiese Art. Damals schrieben die Schüler noch mit Feder und Tinte, kurz bevor die Schulen auf die heute gängigen Füllfederhalter umstellten. Wenn wir Grundschüler uns beim Schönschreiben zu sehr verkrampften, traf uns sofort der strenge Blick des Lehrers. »Du machsch Chnötli, du schriebsch falsch!«, giftete er und schlug uns mit dem dreißig Zentimeter langen Vierkantlineal auf die Finger. Verständlicherweise fürchteten wir uns, wenn er mit seinem Lineal während eines Diktats in den Stuhlreihen auf und ab ging.
Vor allem auf die Ausländerkinder hatte er es abgesehen, denn er war Mitglied der Partei Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat (kurz NA), die mit rassistischem Gedankengut auffiel und 1967 schließlich einen Sitz im Nationalrat erringen konnte. Der unfreundliche Lehrer machte aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Er plagte uns Ausländer, wie er nur konnte, und er maß eindeutig mit zweierlei Maß. Die Italiener nannte er »Tschingge« 1und meinte, dass sie am besten sofort in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollten. Er zog sie an den Ohren und haute sie auf den Hinterkopf. Dass die Schweiz ihre gut ausgebaute Infrastruktur vor allem den fleißigen Gastarbeitern zu verdanken hatte, kümmerte ihn nicht.
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