Zunächst testete ich Jiu-Jitsu, bis ich schließlich zu Aikido fand. »Aikido« könnte man interpretieren mit »Mit der Kraft des anderen siegen«. Es ist zwar ebenfalls eine defensive Kampfkunst, aber es setzt schon an, bevor der Angreifer seine Attacke ausgeführt. Der Aikido-Kämpfer beobachtet genau, was der Gegner plant. Wenn dieser angreifen will, wird er sofort daran gehindert. Der Angreifer muss blitzschnell umschalten, wenn er durch den Schwung nicht überwältigt werden will – und hat oft sehr schnell verloren. Aikido-Kämpfer bewegen sich dabei höchst elegant und souverän.
Mit der Kraft des anderen siegen – das gefiel mir. Mit dem Training wurde ich agiler, widerstandsfähiger, stärker. Ich war es gewohnt, meine Kräfte mit anderen zu messen. Dass mir meine Athletik schon bald sehr nutzen würde, hätte ich nicht gedacht.
Ein ganz normaler Tag. Gerade hat die Schulglocke geläutet. Hunderte vergnügter Schüler freuen sich, endlich wieder nach draußen zu können. Doch als sich die freudigen Massen in Bewegung setzen, kommt der Strom plötzlich ins Stocken. Ich befinde mich relativ weit vorne, nahe dem Ausgang. Warum geht es nicht voran? Da sehe ich es: Von den verschiedenen Ausgangstüren ist nur ein einziger Flügel geöffnet. Die Schüler schubsen, stolpern, schieben. Mehrere Hundert Kinder drängen durch eine einzige schmale Tür nach draußen – das kann nicht gut gehen.
Vor dem geöffneten Türflügel staut es sich. Einzelne Jungen und Mädchen werden gegen die Wand gedrückt, versuchen irgendwie durch die enge Tür zu gelangen. Dann: ein Schrei! »Hilfe!« Ein Kind liegt am Boden. Ein zweites. Ein drittes. Eine Massenpanik bricht aus. Die Jungen und Mädchen trampeln über die am Boden Liegenden hinweg. Wie kann es ohne echte Gefahr zu einer Massenpanik kommen? Jeder will nur noch seine eigene Haut retten. Ich erschrecke: Die werden die Kinder doch wohl nicht zertrampeln? Ich drücke mich irgendwie zu den Kindern durch, die von Füßen malträtiert werden, und stemme mich mit meiner ganzen Kraft gegen die Massen wie ein Wellenbrecher gegen die aufgescheuchte See. Lange werde ich das nicht durchhalten, das weiß ich. Angestrengt schaue ich nach unten zu den schmerzverzerrten Gesichtern: »Schnell! Weg hier!« Die Kinder rappeln sich auf, schnappen kurz nach Luft – und stolpern nach draußen. Es dauert nur wenige Sekunden. Länger hätte ich dem Druck auch nicht standgehalten. Meine Kräfte versagen. Ich lasse mich nach draußen treiben. Erschöpft ringe ich nach Atem, als ich auf dem Schulhof stehe. Die Kinder sind gerettet. Oder besser: Ich habe sie gerettet.
Ja, gerettet hatte ich sie. So wie der starke Wanja, über den ich in meinem Kinderbuch gelesen hatte. Wanja, der sein Dorf vor Monstern geschützt und dabei übermenschlichem Druck getrotzt hatte. Das hatte ich auch getan. Und wie bei Wanja hätte wohl nie jemand damit gerechnet. So empfand ich es damals zumindest in meiner kindlichen Vorstellung. Ein Teil meiner Märchen-Traumwelt wurde auf diese Weise Wirklichkeit und dieses Erlebnis erfüllte mich mit einem Stolz und einer Zufriedenheit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Ich fühlte mich plötzlich wirklich stark. Die große Gefahr hatte gedroht, mich zu überwältigen, aber ich hatte die Bedrohung mit maximaler körperlicher Anstrengung überwunden. Stärke als Problemkiller, das brannte sich tief in mein Herz ein.
Eine Last wurde ich allerdings weiterhin nicht los: Die Schläge meines Vaters, der mir ja immer noch körperlich deutlich überlegen war. Ich litt so sehr unter seiner Hand, dass ich schier verzweifelte. In meiner Not dachte ich darüber nach, wer mich von diesen Schlägen erlösen könnte. Vielleicht Gott?
Ich kannte die katholische Kirche aus Österreich, die evangelische vor allem aus der Schweiz. Tischgebete gehörten zum Standardprogramm meiner Familie, auch wenn der Glaube an sich in unserem Familienalltag kaum vorkam. Eine persönliche Beziehung zu Gott hatte ich nicht. Aber ich sah mich in einer so schwierigen Lage, dass ich beschloss, geistlichen Beistand zu suchen. Ich dachte: »Wenn es einen Gott gibt, muss er doch einen Weg wissen, wie ich der Gewalt meines Vaters entfliehen kann!«
Ich wandte mich an den Pfarrer unserer evangelischen Kirchengemeinde, den ich vom Religionsunterricht kannte. Ich muss nicht erwähnen, welche Überwindung es für einen Teenager bedeutet, von sich aus den Kontakt zu einem fast fremden Erwachsenen zu suchen, noch dazu zu einem Würdenträger. Aber ich hoffte so sehr, dass er sich bei mir gegenüber meinen Eltern einsetzen würde, dass ich es wagte. Ich bekam einen Termin und saß ihm wenig später gegenüber.
Ich erzählte von den schlechten Noten, davon, wie ich auf dem Heimweg absichtlich trödelte, weil ich Angst hatte, nach Hause zu kommen. Ich berichtete dem Pfarrer, wie fest und wie lange mein Vater mich schlug. Er hörte mir zu, doch dann empfahl er mir allen Ernstes, das Gespräch mit meinem Vater zu suchen. Er betete für mich, sprach einen Segen. Das »Amen« beendete nicht nur das Gebet, sondern auch unser Gespräch. Anstatt zu handeln, laberte der Pfarrer nur. Worte statt Taten, ein paar aufmunternde Sätze statt echter Hilfe – ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen und wurde mit ein paar Schulterklopfern nach Hause geschickt, wo ich die häusliche Gewalt weiter fürchten musste. Mir wurde immer klarer: Ich werde mir nur selbst helfen können. Und ich würde meine Kampfkünste dafür einsetzen.
Gewalt darf nie ein Mittel der Erziehung sein. Wer seine Kinder schlägt, gewöhnt sie an Gewalt, schafft Distanz, schürt Ängste, zerstört Vertrauen, wertet sie ab. Kinder brauchen klare Regeln, sie müssen Konsequenzen kennenlernen, natürlich. Doch ihre Eltern müssen sie auch schützen. Kinder, die Vater und Mutter als unbeherrschte Aggressoren erleben, leiden bis ins Erwachsenenalter darunter. Es hemmt ihre Beziehungen, konditioniert sie, sich zu ängstigen, wenn sie vermeintliche Fehler begangen haben – und lässt sie später oft selbst zu Gewalttätern werden. Dieser Kreislauf muss unbedingt durchbrochen werden.
Heute werde ich manchmal in Schulen eingeladen, um mein Lebenszeugnis an Jugendliche weiterzugeben. Den jungen Menschen rate ich dringend, sich Hilfe zu holen, wenn sie Gewalt erfahren haben. Niemand soll sich schämen, Opfer von Gewalt geworden zu sein. Jeder Mensch verdient es, gewaltfrei aufzuwachsen. Es gibt vereinzelt Christen, die Schläge in der Erziehung mit Versen aus dem Buch der Sprüche rechtfertigen – als ob man aus ein paar einzelnen Versen konkrete Erziehungsmaßnahmen ablesen könnte, die auch nach Jahrtausenden und in einer völlig anderen Kultur alternativlos gültig sind! Sie irren. Christen haben die Aufgabe, Menschen in Not beiseitezustehen, auch wenn sie dabei selbst in die Schusslinie geraten.
Als ich in der achten Klasse war, wendete sich die Beziehung zu meinem Vater. Ich weiß gar nicht mehr, warum er mich verprügelte, aber es lief ab wie schon viele Male vorher: Er haute mir im Stehen eine runter, boxte und schlug mich, bis ich zu Boden fiel. Das hielt ihn nicht davon ab, mich weiter zu malträtieren. Jedes Kind lernt, dass man einen, der am Boden liegt, in Ruhe lässt, aber mein Vater schlug weiter. Er bearbeitete mich mit Händen und Füßen, trommelte auf meinen Rücken und Po. Der dumpfe Schmerz, den ich schon so oft erfahren hatte, durchströmte meinen Körper.
Am Boden liegend sah ich in sein zorniges Gesicht. Gerade wollte er wieder zum Tritt ausholen – da klappte plötzlich ein Schalter in mir um. Ich hob meinen Fuß zu einer Abwehrbewegung, die ich im Aikido gelernt hatte – »Mit der Kraft des anderen siegen.« Mit voller Wucht trat mein Vater gegen meine Schuhsohle. Er jaulte auf und sein Gesicht verkrampfte sich vor Schmerz. Dann sackte er auf einem Stuhl zusammen und hielt sich ächzend das Bein.
Читать дальше