1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Ich kannte mein Bruderherz ein bisschen und wusste, dass manch einer seiner Witze in reinsten Ernst umschlagen konnte. Ludwig Wucherer bat ihn auch gleich, sich und Reils gut patriotische Idee doch näher zu erklären. Du wirst es nicht glauben, mein Sohn, Meckel zog ein bereits zerlesen wirkendes Papier unter seiner wie alle seine Arbeitskleidungsstücke schwarzen Weste hervor. Dabei weißt auch du, mein Heinrich, wie penibel getrennt er sein schreibendes von seinem schneidenden Arbeitsfeld zu halten pflegt.
Er ging gleich lesend zur Sache, übrigens mit grimmigem, wenn nicht auf Meckel’sche Weise sogar patriotischem Vergnügen: »Schon um die Zeit des Jahres 1795, als ich die Organisation der Nerven untersuchte, habe ich mich auch mit dem Bau des Gehirns beschäftigt und einige Resultate meiner Untersuchungen im ersten Bande von Gren’s neuem Journal für die Physik abdrucken lassen«, las, nein deklamierte Meckel den Brief von Reil. »Allein, ich musste damals eine Arbeit aus Mangel an Muße liegen lassen, die ich jetzt aus Mangel an Geschäften wieder hervorsuche, den ein unseeliger Krieg, welcher mich aus dem Kreise meiner Zuhörer riss, über mich verhängt hat. Doch auch Disteln haben ihre Honigkelche. Eben dieser Krieg hat mich an seine Quellen geführt und mich zur Untersuchung des Organs hingedrängt, in welchem er und fast alles Missgeschick des Menschengeschlechts, alles Große und Edle, wie alles Kleine und Schlechte, was unter dem Monde geschieht, seine Wurzeln hat ... Denn wenn auch den Toren, an deren Schädel ganz andere Fächer angeschrieben sind, als in welche sie der Zufall geworfen hat, die Gall’sche Schädellehre ein Ärgerniß sein mag; so muss sie doch die Masse in ihr Interesse ziehen, die täglich die Erfahrung macht, wie viel darauf ankomme, die Köpfe zu kennen, deren einer zureicht, eine Generation des halben Erdballs glücklich oder unglücklich zu machen. Möchte es mir gelungen sein, zur Ergründung dieses geheimnißvollen Organs, das die Bedingung, aber zugleich auch die Schranke aller empirischen Idealität und das einzige Problem der Philosophie ist, auch nur etwas beigetragen zu haben; so wäre nie ein Krieg in seinen Folgen heilsamer als dieser gewesen.«
Meckel sah Ludwig und mich wechselweise triumphierend an. »So muss ein Freischärler handeln, wenn er zugleich Anatom ist! Bringe Reil und mir doch einer von euch mit dem Säbel anatomierenden Partisans oder Brigands mal den Kopf von Napoleon!«, rief er grimmig vergnügt in die imaginäre Richtung des deutschen Vaterlandes.
In diesem Augenblick kam Meckels Filipo, das gelehrige Saju-Äffchen, das wir vor zwei Jahren in Neapel von einer Drehorgel weg gekauft hatten, herbeigesprungen und reichte Meckel das Fläschchen mit Kloschwitzer Kirschgeist, mit dem Meckel sein werdendes Präparat schon einmal ringsherum bekannt gemacht hatte. Filipo war eine Person für Meckel, wie du weißt, und er pflegte immer auf den Saju des Brasilienforschers und Prinzen Wied zu Wied hinzuweisen, der schon Eingang in die Personenverzeichnisse mehrerer Bücher gefunden hatte. »Danke, Don Filipo«, sagte Meckel also mit allem ihm gebotenen Ernst, behielt das Fläschchen in der Hand und ließ das Äffchen auf seine Schulter. Dann durchdrangen mich beide mit ihren Blicken, und ich bemerkte erstmals, dass Meckel inzwischen ebenso häufig mit seinen Augendeckeln plinkerte wie sein kleiner neapolitanischer Assistent.
»Aber mach’s, wenn du der erfolgreiche Jäger des Kopfes von Napoleon sein solltest, mit einem Blattschuss!«, sagte Meckel. »Reil breche dann das Hirn nach seiner Methode. Und ich als sein Freund und sein Hirnanatomieassistent darf wohl dabei sein!«
»Unser lieber Onkel Reil!«, wunderte sich Ludwig. »Bei dir hingegen, Onkel Fritz, verblüfft mich dergleichen gar nicht. Wer von euch kam bloß auf die Idee mit dem Napoleons-Kopf?«
»Das geht bei uns doch Hand in Hand«, hatte Meckel da gesagt. »Es ging ein Wort von Napoleon um, das ich meinem Reil weitersagte. Es lautet: ›Meine eiserne Hand befindet sich nicht am Ende meines Armes, sie ist unmittelbar mit dem Kopf verbunden.‹ So. Mich interessieren nun vorrangig solche beeindruckenden Missgeburten, unsern Reil eher deren Hirn. Aber Scherz beiseite. Bringe mir ein Objekt dieser Art, Bruderherz, und ich gebe dir Urlaub für so viele Schlägereien und Raubzüge, wie du möchtest!«
Es gibt ernste Wahrheiten, mein Sohn, die zunächst als launige Scherze auftreten. Daran, dass wir 1814 nach Neapel mussten, mag vor allem das Skelett deines Großvaters schuld sein. Aber daran, dass wir dann dort im Königspalast ein und aus gehen konnten und deinem Onkel deshalb zum Beispiel überhaupt erst richtig bewusst werden sollte, wie sehr er deine Tante doch liebte – das hat auf jeden Fall mit diesem Meckel’schen Scherz begonnen, den ich doch tiefer mir ins Herz eingelassen hatte, als ich damals ahnte und als es mir dann lieb sein sollte ...
»Aber du, Ludwig«, versuchte Meckel weiter, uns vom Partisanenleben abzuhalten, »bist du nicht für an die zweihundert Leute hier in der Stadt und für an die tausend Weber oben auf dem Harzgebirge verantwortlich? Schicke an deiner Stelle doch zehn deiner Männer, die du sowieso gern entlassen würdest, zu dieser ganzen patriotischen Strauchdieberei nach Breslau!«
»Ich muss sowieso nach Breslau, zungenscharfer Meckel«, lachte Ludwig. »Dort bei Froböß und Companie habe ich ja, falls du dich erinnerst, sowohl Kaufmann als auch das Bankenwesen erlernt. Es gibt dort außerdem die sogenannten Russenmärkte. Nun das Folgende: Meine Gorgas-, Serge- und Kasimirproduktion hier in Halle ist jetzt sowieso fast am Ende, schon weil für mich durch die Kontinentalsperre England und Übersee verloren sind. Ich kann also keine neuengländischen Farmer und keine mexikanischen Mestizenbräute mehr bekleiden. Und jetzt auch noch die westdeutsche Konkurrenz – von der durch den sächsischen Zeugdruck gleich nebenan ganz zu schweigen! Dazu kommt, dass ich zwar vor zwei Jahren meinen aus der Fabrik requirierten Farbhölzervorrat zurückbekommen habe, aber das nur durch die Erlegung der Eingangssteuer. All mein Rohmaterial ist in solcher oder ähnlich ruinöser Art belastet. Für einen Meckel und seine eingeweckten Missgeburten, wie wir sie hier ringsum sehen, steht wenigstens immer auch der Staat mit ein – egal welcher gerade! Kurzum, ich bin jetzt knapp vierundzwanzig Jahre alt und als Fabrikant eigentlich schon wieder am Ende. Ich habe das so deutlich noch keinem in Halle gesagt. Meine Lieblingsschwestern sind tot, jüngst starb Mutter, und eine Liaison im siebenten Himmel ist bei mir auch gerade unter die Erde gekommen. Also, lieber Meckel, ich muss nach Breslau. Als Freischärler sowieso, aber weil ich so hartnäckig bin, auch noch als Fabrikant. Vielleicht kleide ich demnächst vor allem Polen, Russen, Griechen und Perser ein?«
»Und deutsche Partisanen!«, rief da Meckel. »Die man dann gegenüber spanischen, russischen und Tiroler Partisanen daran erkennen wird, dass natürlich auch sie deutsche Uniformen tragen!«
»Grundfarbe schwarz«, lachte Ludwig bestätigend. »Man kann alles schwarz färben! Es ist die Billigstvariante und ist mein an Gneisenau übermittelter Vorschlag für die Uniform der freiwilligen Jäger. Ob er bereits angenommen wurde, werden wir in Breslau sehen.«
»Oder in Dresden«, schloss ich an, um meinen Kompromissvorschlag an mein Bruderherz Meckel vorzubereiten.
»Bleibe ausgerechnet ich dann quasi der einzige Fabrikant von Bedeutung hier in Halle?«, knurrte Meckel. »Ich habe die größte, vielleicht sogar die beste fabrica aliena der Welt, noch vor den beiden in London und Paris, nur dass selbst die Natur nicht so viele Monstrosae hecken könnte wie deine Fabrik Kleidungsstücke für dieselben, liebster Ludwig! So. August Albrecht Meckel von Hemsbach bleibt jedenfalls hier! Ohne meinen Bruder geht auch mein Laden nicht. Es ist mit meinem Albrecht hier so wie für dich mit deinem Eggerding!«
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