Plötzlich fühlte sie Tränen hinter ihren Lidern, Tränen, die sich ungeduldig hervordrängten, trotzdem sie sich dagegen wehren wollte. Oh — einmal noch diesen Menschen in das dreiste Abenteurergesicht sehen dürfen, ihm dann vergelten, was er ihr angetan.
Sie überlegte. Wie schön wäre es gewesen, wenn der Fremde sich ruhig und mutig dem empörten Dr. Wendeck gestellt und bekannt hätte: ‚Ich war närrisch geworden, aber das Mädel trägt keine Schuld an dem Vorfall!‘ Sie würde ihm dann vergeben haben.
Vielleicht hätte er nachher sogar unten auf der Straße gewartet, bis sie gekommen, und sie wären zusammen durch den abendlichen Berliner Osten gewandert, lachend und plaudernd. Er hätte sie ein Stück auf dem Heimweg begleitet. Und ihr wäre jetzt anders zumute. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte leise. Großchen durfte es nicht hören, aber die Tränen taten ihr gut, und sie dachte an das lachende, verwegene Männergesicht, dachte an zwei kraftvolle Arme, die sie umfangen hatten, und an einen Mund, der fest auf dem ihren geruht. Sie dachte an einen Menschen, den sie haßte, und weinte vor — Haß — —
Christel schlief wenig in dieser Nacht, aber ehe sie ihren Gang zur Tagesarbeit antrat, zeigte sie der alten Frau ein recht frohes Gesicht und lächelte:
„Es ist wirklich alles gar nicht so schlimm, Großchen. Im Grunde genommen bin ich zufrieden, daß ich von dem ollen Nörgelpeter weg kann. Ich finde bestimmt binnen kurzem eine andere Stellung. Wir verhungern auch nicht, wenn ich mal ein paar Monate faulenzen müßte; du läßt mich dann ein Weilchen von deiner Witwenrente mitessen.“ Sie scherzte: „Ich schnalle mir den Gürtel auch etwas enger. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen.“
Unterwegs sah ihr Gesicht aber nicht mehr so vergnügt aus. Ein scharfes Fältchen hatte sich zwischen ihren Brauen eingekerbt, und es blieb dort, bis sie vor der Tür ihres Chefs stand. Jetzt verschwand das Fältchen. Christel wollte und konnte sich zusammennehmen. Dr. Wendeck brauchte nicht einmal zu ahnen, wie elend und bange ihr ums Herz war.
Die Frau, die hier täglich vormittags die gröberen Arbeiten verrichtete, öffnete ihr wie jeden Morgen. Sie hieß Frieda Fuchs, war hübsch, sechsundvierzig Jahre und die Witwe eines Kassenboten.
Christel grüßte freundlich, und während sie Mantel und Hut ablegte, fragte Frau Fuchs:
„Haben Sie vielleicht eine Rückfahrkarte verloren, Fräulein Ewald? Wenn nicht, wissen Sie aber wohl, wer sie verloren haben könnte. Sie muß einem von den jestrijen Patienten jehören.“ Sie ging Christel voraus in das Wartezimmer und fuhr fort: „Die Karte hat neben der Schwelle jelejen. Un soviel wie ich davon verstehe, hat sie sojar noch bis morjen Jültigkeit.“ Sie nahm von einer Nickelschale einen Eisenbahnfahrschein und hielt ihn Christel entgegen, die den Namen des Ortes las, der als Ziel angegeben war. Sie meinte: „Mir gehört die Karte nicht, aber ich will nachdenken, wer gestern hier gewesen ist und wer der Eigentümer sein könnte. Ein paar von den gestrigen Patienten werden übrigens heute wiederkommen.“
Frau Fuchs machte ein versonnenes Gesicht.
„Mit Rückfahrkarten muß man sehr vorsichtig sein. Wenn man zum Beispiel denkt, nu is für die Rückfahrt jesorgt, un verkrümelt daraufhin sein janzes Jeld in ‘nem fremden Ort, denn steht man nachher da wie die Kuh vor‘t neue Tor. Nämlich mir is es mal so jejangen in Werder bei der Baumblüte. Einer, der da vom Obstwein puppenlustig jeworden war, hat die Rückfahrt für mich bezahlt. Ein hübscher Kerl war er. Nachher hat er mich sojar besucht, und ich habe ihm, wie sich das jehört, sein jepumptes Jeld wiederjeben wollen. Denken Sie vielleicht, er hätte es jenommen? Bewahre! Er hat mir bloß immerzu vorphantasiert, ich wäre so ‘ne hübsche Frau un janz sein Jeschmack.“ Sie redete frisch darauflos. „So was habe ich natürlich janz jerne jehört, weil mein Verstorbener nie so was gesagt hat.“ Sie verzog den Mund. „Der hat man immer bloß jeschimpft.“
Christel warf einen Blick auf die Uhr, die über dem moosgrünen Plüschscheusal hing, das sich auch heute noch Sofa zu nennen wagte. Sie unterbrach die Redselige:
„Ich muß Dr. Wendecks Instrumente zurechtlegen.“
„Ach, Sie haben noch ein bißchen Zeit“, meinte Frau Fuchs in beinah bittendem Ton. „Ich werde rasch weitererzählen, ich möchte das einmal vom Herzen herunter haben, weil ein paar Frauen damals zu mir jesagt haben, ich hätte mich mordsdämlich benommen.“
Christel verspürte wenig Lust, noch länger zuzuhören. Sie hatte selbst genug auf dem Herzen, und die Rückfahrkarte brannte ihr förmlich in den Händen. Sie hatte im Geist schon alle gestrigen Patienten an sich vorbeigehen lassen. Sie waren ihr alle bekannt, und sie wußte, daß sie sämtlich in Berlin wohnten. Die Karte gehörte also wohl keinem von ihnen. Allerdings war gestern noch jemand dagewesen, den sie nicht kannte, ein dreister und unverschämter Mensch, einer, über den sie gar nichts wußte. Sie hatte auch keine Ahnung, wo er zu suchen wäre. Wahrscheinlich war die von Frau Fuchs neben der Schwelle des Wartezimmers gefundene Rückfahrkarte so etwas wie ein Fingerzeig des Schicksals, wahrscheinlich hatte sie jener Fremde verloren.
„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Wir gehen lieber mittags zusammen hier weg. Unterwegs erzählen Sie mir dann alles ausführlich, Frau Fuchs.“
„Wenn‘s nich anders jeht, können wir‘s so machen“, stimmte die Frau zu und entfernte sich.
Christel aber ordnete im Arbeitszimmer Dr. Wendecks alles so, wie er es vorzufinden wünschte, wenn er kurz vor neun Uhr den Raum betrat. Der erste Patient des Tages wurde von ihm gewöhnlich um diese Zeit herbestellt.
Die Pinzetten, Bohrer und Messerchen, die Sonden, Spiegelchen und Exkavatoren blitzten. Bald lagen in Reih und Glied ausgerichtet alle die Gegenstände auf dem Drehtischchen, die ein Zahnarzt heutzutage braucht. Christel war es, als blinkten sie ihr spöttisch zu. Sie beeilte sich mit ihrer Arbeit und holte dann den Fahrschein aus der Tasche ihres weißen Kittels, den sie vorhin übergezogen. Eingehend betrachtete sie die Karte. Als Ziel war der Name einer märkischen Stadt darauf gedruckt, die nicht allzu weit von Berlin lag.
Christel glaubte ihrer Sache immer sicherer zu sein. Der Verlierer war der Mensch, der die Schuld trug, daß sie ihre gute Stellung nun bald würde aufgeben müssen. Und was hatte sie noch alles vorgehabt in nächster Zeit. Einen bequemen Liegestuhl hatte sie Großchen schenken wollen, und im Sommer hatte sie beabsichtigt, mit ihr irgendwohin in die Hamburger Landschaft zu reisen — von wo es nicht mehr weit war bis zum Schattenhof —, um ihre Ferien dort mit ihr zu verbringen. Großchen fieberte oft förmlich nach ein paar kräftigen Atemzügen Heimatluft, wie sie ihr gestanden hatte.
Christel unterdrückte einen Seufzer, denn eben ertönte die Flurklingel und im gleichen Moment tat sich auch die Tür von Dr. Wendecks Privatwohnung auf und der Zahnarzt trat ein. Grau in grau! mußte Christel wieder, wie schon so oft, denken, als Dr. Wendeck ihren Gruß lässig und unfroh erwiderte. Frau Fuchs hatte eben geöffnet, denn man hörte, daß jemand nebenan im Wartezimmer Platz nahm. Dr. Wendeck machte eine seiner schlenkernden Bewegungen, die ausdrücken sollte, der Patient könne eintreten, und Christel machte sofort die Tür zum Wartezimmer auf. Eine dicke Dame, mit dem Ausdruck unverhohlener Zahnarztangst auf dem Hängebackengesicht, schob sich herein. Ein liebenswürdiges Lächeln Dr. Wendecks versuchte, ihr Mut zu machen. Jetzt konnte er lächeln, weil ihm das Lächeln gewissermaßen bezahlt wurde.
Christel begriff nicht, daß es noch immer Menschen gab, die vor dem Zahnarzt Angst haben konnten wie vor dem unsinnig heraufbeschworenen schwarzen Mann in Kindertagen.
Читать дальше