„— wie sein Davonlaufen bestens beweist!“ fiel ihr Fränze ins Wort und meinte dann nachdenklich: „Hast ihn dir, obwohl alles sehr schnell gegangen sein soll, doch überraschend gründlich angeschaut, Christel. Aber lassen wir das vorläufig und denken wir an unseren Aufbruch, sonst lohnt es kaum noch, daß du mich begleitest.“
Christel sah die ältere Freundin überlegend an, ehe sie antwortete: „Ehrlich gestanden, Fränze, verspüre ich eigentlich auch gar keine Lust mehr dazu. Groß-chen hat ja sowieso Abendbrot bereit gehalten, und wenn du mir einen Gefallen tun willst, bleibe noch ein Weilchen hier und iß mit.“ Fränze gab sofort nach.
„Gern, wenn es dir so lieber ist.“
Frau Ewald verließ still das Zimmer, sie wollte in der Küche noch ein paar Vorbereitungen für den Gast treffen. Sie selbst aß immer schon zeitiger, weil es ihr besser bekam. Sie war jetzt etwas niedergedrückt. Die Kündigung Christels, einige Monate vor dem Weihnachtsfest, zerstörte wahrscheinlich ein paar Pläne, die mit dem Fest zusammenhingen und auf deren Verwirklichung man sich schon gefreut hatte.
Kaum befanden sich die beiden Mädel allein, schob Fränze die jüngere Freundin mit ein paar liebevollen, aber kräftigen Stößen zum Sofa und nahm neben ihr Platz.
„Jetzt bekenne mal, du verschlagenes Weibsbild, was du bisher noch nicht bekannt hast, nämlich, daß dir der Mann ganz ungewöhnlich gefallen hat.“ Sie lachte: „Feuerrot bist du eben geworden. Wenn man jemand die Wahrheit auf den Kopf zusagt, kann man danach allerdings oft solchen Farbwechsel beobachten. Schöne Christine: Wie konntest du zum Beispiel wissen, daß seine Schultern ihre edle männliche Breite keiner Rockwattierung verdanken, wie du vorhin in herzerfrischender Offenheit ausgeplaudert hast?“
Christel lachte verlegen:
„Möchtest mich wohl auf den Arm nehmen, Fränze? Meinetwegen, wenn du’s durchaus wissen willst, ich hab’ das gefühlt, als er mich so fest umarmt hat.“
„So, so!“ machte Fränze und ihre grauen Augen blickten äußerst vergnügt. „Schade, daß dieser Held ausgerissen ist wie Schafleder. Er wäre dir sicherlich gefährlich geworden.“
Christel zog die dunklen, schmalen Brauen dicht zusammen.
„Aus Männern, die nicht den Mut haben, für ihre Taten einzustehen, mache ich mir nichts.“
„Eine Tat nennst du den geraubten Kuß?“ lachte Fränze. „Ach, du gütiger Himmel, schöne Christine, was liegt denn an so einem Kuß? Der lange Edgar hat dich zum Beispiel doch auch schon geküßt. Ich hab’s doch selbst gesehen.“
Christel erwiderte zornig: „Laß mich mit dem langen Edgar zufrieden, der küßt alle Mädel, die er hübsch findet, wenn sie sich nicht wehren. Und als du deinen Geburtstag feiertest und uns ein bißchen zuviel Wein spendiertest, hat er mich eben auch geküßt. Ich habe mir aber noch tagelang danach die Lippen abgerieben und den Mund gespült.“
„Das aber hast du heute abend noch nicht getan, Mädelchen“, erinnerte Fränze. „Also, hole es nach, sonst wächst dir der Schnurrbart.“ Sie hob keck ihre etwas breite Nase.
Christine stand auf. „Ich muß Großchen in der Küche helfen, sie wird schon alles auf dem Tablett zurechtgestellt haben.“
Blitzgeschwind hatte sie sich an Fränze vorbeigedrängt, die gar keinen Versuch gemacht hatte, sie festzuhalten, sondern sich nur noch behaglicher in die Sofaecke drückte.
Alte Sofas, von der Art dieses braunen, mit Samt überzogenen Möbels, haben es in sich. Sie speichern in ihrem langen Dasein, irgendwo in ihrer Urväterpolsterung, eine Unmasse von Gemütlichkeit und Behagen auf.
Fränze blickte sinnend vor sich hin und das, was ihr zuletzt durch den Kopf gegangen, faßte sie in die leicht klingenden und doch so inhaltsschweren Worte zusammen:
„Das schlimmste und dümmste, schöne Christine, ist, daß du dich Hals über Kopf in den fremden feigen Mann verliebt hast!“ Sie sagte es sehr leise, als vertraue sie sich damit selbst ein Geheimnis an.
Draußen in der Küche aber sprach eben die alte Frau zu der Enkelin:
„Du wirst bald eine andere Stellung finden, Christel, und es ist vielleicht gut, daß du von Dr. Wendeck fortkommst. Er hat dir mit seinem muffigen Wesen ziemlich oft die frohe Stimmung genommen.“ Sie nickte Christel zu. „Es ist sogar möglich, daß es Dr. Wendeck inzwischen noch leid wird, dir so schnell gekündigt zu haben, und er die Kündigung zurücknimmt.“
Das junge Mädchen ergriff das große Tablett, auf dem Großchen das Abendessen aufgebaut hatte. Die Teller und Bestecke klirrten aneinander.
„Ich möchte nun wirklich nicht mehr bei ihm bleiben, Großchen, es ist ein ekliges Gefühl, immer in der Nähe eines Menschen beschäftigt zu sein, der einem nicht glaubt.“
Frau Anke Ewald schob noch ein Glas auf das Tablett und wollte etwas erwidern. Aber sie unterließ es im letzten Augenblick, dachte an die oft angewandten Sprichwörter: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird! und: Kommt Zeit, kommt Rat! Eins davon paßte sicher.
Zwei Stunden lang blieb Fränze noch in der kleinen Zweizimmerwohnung am Andreasplatz, und als sie sich verabschiedet hatte, war sie fest überzeugt, Christel wieder ein bißchen ‚aufgemöbelt‘ zu haben. Sie wäre aber bald ganz anderer Meinung geworden, wenn sie die Freundin etwas später hätte beobachten können.
Christel hatte der alten Frau eine gute Nacht gewünscht und war in ihre Kammer gegangen, die außer der Waschkommode nur ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl enthielt. Über dem Bett hing ein gemaltes Bild des Schattenhofes, das Großchen einst von daheim mitgebracht hatte.
Christel betrachtete es heute mit versonnenen Augen und dachte: Schön müßte es sein, im Sommer dorthin zu fahren, wenn die Linden zu blühen beginnen, die auf dem Bild schon dicht und grün um das Wohnhaus standen wie treue Wächter. Eine Bank unter einem der mächtigen Bäume lud zur Rast ein, und das Leuchten der scheidenden Sonne lag wie ein goldener Himmelsgruß über den Dächern der Ställe und über dem weiten Hof, auf dem man gerade die Last eines frühen Erntewagens in die Scheuer brachte.
Auf dem Schattenhofe wohnten noch heute die Wobbes, Blut von ihrem Blut, ein kräftiger, gerader Menschenschlag, wie Großchen immer betont erzählte, aber bauernstolz bis auf die Knochen. Man war Anke Ewald, die vor fünfundfünfzig Jahren nach Berlin geheiratet hatte, noch heute nicht besonders gutgesinnt. Es war ihr damals Gelegenheit geboten worden, in einen großen Hof der Marsch hineinzuheiraten, aber sie hatte sich doch für den Musiker aus Berlin entschieden, den sie während eines kurzen Aufenthaltes in Hamburg zufällig kennengelernt. Die Entscheidung Ankes war den Wobbes damals unverständlich geblieben und auch inzwischen keinem der jüngeren Familienmitglieder recht klargeworden.
Christel grübelte: Ausruhen möchte man in dem alten Haus mit den dicken Mauern, hinter dessen Fensterscheiben sich schneeweiße Gardinen bauschten, die Geheimnisse zu verbergen schienen, denn sie verwehrten es jedem Neugierigen, hineinzuschauen.
„Schattenhof!“ sagte Christel vor sich hin. Der Name klang nicht fröhlich, aber er klang eigen, sogar ein wenig unheimlich. Sie lächelte: Eine Tochter vom Schattenhof in den Vierlanden hätte sich wohl kaum so täppisch benommen, wie sie es heute getan hatte. Die würde sich gleich kräftig gewehrt und dem traurigen Helden sicher sofort ihre Meinung in das unverschämte Gesicht geschrieben haben. Christel hob die Rechte, als wollte sie das, was sie unterlassen, noch nachholen. Ihre Hand sank nieder. ‚Ich bin ja verdreht, ein Schlag in die leere Luft wäre blöd‘!
Christel schob die zehn Finger ineinander wie zum Gebet, und in ihr wurde immer inbrünstiger der Wunsch rege, dem Fremden recht bald irgendwo einmal zu begegnen, damit sie ihren Schwur halten könnte.
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