„Jetzt hört endlich auf, euch umschichtig zu entschuldigen!“ befahl Carmen. „Es ist ganz in Ordnung, daß man seinen Freunden etwas erzählt, was einen bedrückt. Und es ist genauso in Ordnung, daß man über Grausamkeiten weint. Mir geht’s eher so, daß ich vor Wut schreien und toben könnte, wenn ich so was höre. Ich könnte hingehen und Leute kaltblütig umbringen, die solche Verbrechen begehen, und das ist halt meine Reaktion. Die Frage, die sich stellt, ist bloß: Was kann man wirklich dagegen tun?“
„In ein Labor einbrechen und die Tiere befreien“, sagte Matty. „Das hab ich mir schon überlegt, ehrlich!“
„So einfach ist das aber nicht“, erwiderte Carmen. „Komm erst mal in so eine pharmazeutische Festung hinein; die sind garantiert einbruchssicher. Und dann die Tiere – was willst du mit denen machen? Die sind verletzt und krank und zutiefst gestört, verängstigt oder aggressiv. Sie trauen Menschen nicht mehr. Außerdem ist das ungesetzlich. Man wird als Einbrecher bestraft, wenn sie einen erwischen.“
„Ist mir doch egal!“ sagte Matty.
„Ja“, bestätigte ich mit meiner verheulten Stimme. „Scheißegal! Sollen sie einen doch deswegen einsperren, wenn sie sich nicht schämen. Dann sitzt man eben auf der Anklagebank, und diejenigen, die foltern und morden, haben das Gesetz auf ihrer Seite. Eine feine Gesellschaft ist das, in der wir leben, das muß ich schon sagen!“
„Zum Davonlaufen!“ sagte Carmen. „Es läßt sich auch bloß aushalten, weil man weiß, daß es noch andere Menschen gibt, die so denken wie wir, und die mit den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, gegen das Unrecht ankämpfen. Sonst könnte man verzweifeln.“
Auf der letzten Strecke kamen uns ein paar der Samstagsreiter entgegen, die nach Mariabrunn zum Bus wollten. Ich merkte, daß sie mich verwundert ansahen. Bestimmt sah ich schrecklich verschwollen und verheult aus, aber es war mir gleichgültig. Auf dem Hofplatz wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Brunnen und half Matty dann, Vroni auszuspannen, den Wagen in die Remise zurückzubringen und die Lebensmittelkartons ins Haus zu tragen.
Als nächstes ging ich zu Hazel auf die Koppel, wie immer, wenn ich Kummer hatte. Sie stand mit gesenktem Kopf unter einer Gruppe von Eichen, die noch unbelaubt waren, und die Sonne lag warm auf ihrem haselnußbraunen Fell. Ich rief sie nicht, denn ich wollte sie nicht bei ihrem Nickerchen stören; doch sie mußte mich kommen gehört oder gewittert haben, denn sie hob den Kopf und wieherte leise mit ihrer hellen Stutenstimme.
Lange stand ich da, die Arme um ihren Hals geschlungen. Ich sah Carmen und Roddy in den Wald reiten, hörte das Drei-Uhr-Geläut der Dorfkirche, das samstags immer so feiertäglich klang, und das ferne Singen einer Säge. Die Welt schien in Ordnung; gerade hier in unserem Tal wirkte alles so friedlich, doch dieser Friede war trügerisch.
Ich fühlte mich seltsam leer nach meinem Tränenausbruch, nicht erleichtert, sondern eher ausgelaugt und ratlos; und ich dachte: Ich kann nie wieder so unbeschwert sein wie früher. Wie soll man unbeschwert leben können, wenn man weiß, daß die Welt um einen herum voller Schmerz und Grausamkeit ist?
„Du hast’s gut, Hazel“, murmelte ich. „Du weißt nichts von all dem. Und ich werde dafür sorgen, daß du es auch nie erfährst. Wenn du sterben mußt, sollst du ohne Angst und in Würde sterben dürfen, und ich werde bei dir sein. Ich bin dir treu, so wie du mir treu bist. Ich würde dich nie gegen ein anderes Pferd austauschen und weggeben, nur weil du nicht schön oder edel oder leistungsfähig genug bist, so wie es viele Pferdebesitzer tun. Ich werde nie zulassen, daß dir etwas Böses geschieht.“
Sie drückte ihre Stirn mit der weißen Zeichnung an meine Schulter, und ich fühlte mich getröstet, als ich ihr das versprochen hatte. Neben der dunklen Seite von Leid und Gewalt gibt es ja auch die helle; die Seite der Liebe, der Fürsorge und Treue. Und dafür lohnt es sich zu leben.
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