»Das war nicht nötig, Kleine!«
Statt einer Antwort steckte sie sich zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus.
»Deine Freundin liegt vorne auf der Straße und hat Kopfschmerzen«, beschied Yuriko sie. »Wir zwei sind ganz allein miteinander.«
Eine arkane Druckwelle, typisch für eine Beschwörung. Ein sehr tiefes Knurren.
»Oder auch nicht.«
Yuriko sah von seiner Verletzung auf. Stellte das Atmen ein, erstarrte vollständig. Der Hund ihm gegenüber war groß genug, um einen Krötenmeister am Stück zu schlucken.
Das Ungeheuer kauerte sich nieder und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Zeigte sein Gebiss, von dem der Sabber troff. Reißzähne, so lang wie Yurikos Hand.
Yuriko schluckte trocken. »Guter Hund«, flüsterte er.
Jetzt nur nicht nervös werden. Hunde witterten Nervosität, und dann griffen sie an. Keine plötzlichen Bewegungen. Der Hund duckte sich, Muskeln zuckten unter seinem dünnen Fell. Yuriko übersprang die Nervosität und verfiel direkt in Panik. Im nächsten Augenblick bruchlandete er auf dem Dach, das schauerliche Schnappen der Kiefer noch im Ohr, hemdsärmelig, während das Monster unten seine Jacke totschüttelte.
Er kauerte sich gegen die brüchigen Dachschindeln und spähte vorsichtig nach unten. Der Hund trampelte gerade die Fetzen seiner Jacke in den Staub. Das Feuergefängnis um die Schwertkämpferin war erloschen, sie selbst verschwand gerade unter ihm im Haus. Nicht gut. Gar nicht gut.
Das Bedürfnis, sich im Teich in Sicherheit zu bringen, wurde übermächtig. Er klammerte sich an die Dachschindeln und bekämpfte den Impuls mit aller Macht. Arkadis und Padda hingen von ihm ab. Wenn Arkadis schlau war, hatte sie sich über den Zaun und die Böschung hinab zur Straße abgesetzt. Was allerdings hieß, dass er hier allein mit den beiden Furien festsaß.
Rumpeln und Krachen drangen aus dem Inneren des Hauses, begleitet von einem Schrei. Staub wölkte durch die Dachsparren. So musste es sich anhören, wenn eine Treppe zusammenbrach.
Vorsichtig erklomm er den Dachfirst, um einen Blick auf die Straße werfen zu können. Wenn die Kuttenfrau noch im Traumland war, konnte er nach vorne auf die Straße, Padda von der Nachbarin retten und vielleicht Arkadis irgendwo aufspüren.
Die Kuttenfrau war weg. Verflucht. Von der Hintertür drang wüstes Gebell zu ihm. Die Jacke hatte wohl nicht ausreichend gesättigt.
Er bemaß die Entfernung zum Dach der Nachbarin. Im Normalfall hätte er sich den Sprung zugetraut, allerdings nicht jetzt, wo sein verletztes Bein ihn nicht richtig tragen wollte.
Blick nach unten. Wie schnell konnte er mit der Verletzung rennen? Schneller, als der Riesenköter den Weg nach vorne auf die Straße fand? Ob der sich wohl vor Feuer fürchtete?
Oh, anderes Problem. Die Kuttenfrau war in seinem Blickfeld aufgetaucht. Sie sah mit ihren eigentümlich toten Augen zu ihm hinauf, dann öffnete sie den Mund und fasste sich hinein, als hätte sie einen Essensrest zwischen den Zähnen stecken und wüsste nicht sich zu benehmen. Sie förderte etwas zutage – etwas Kleines, Weißes – ein Steinchen? Wieso hatte sie …?
Mit Grauen begriff Yuriko, dass die Kuttenfrau sich soeben einen Zahn aus dem Kiefer gezogen hatte und ihn jetzt von sich warf. Dort, wo der Zahn seinen Vorgarten berührte, wölbte sich die Erde, brach auf und entließ eine Gestalt ans Tageslicht, die sich mit jeder Bewegung weiter zusammensetzte: ein kahler, brauner Totenschädel, Halswirbel, ein verfaulter Brustkorb, Knochenarme, gekrümmte Klauen. Das tote Ding richtete sich auf und schlurfte zum Haus. Seine Knochenfüße verursachten ein Geräusch auf dem Kiesweg, das Yuriko alle Haare aufstellte.
Dass er möglicherweise ein größeres Problem hatte als seine Frisur, begriff er, als das tote Ding begann, sich am Efeu in die Höhe zu ziehen. Und da, wo es herkam, wuchsen neue nach. Eins ums andere entstiegen sie dem Erdreich und gesellten sich zu ihrem kletterfreudigen Anführer. Eine knochige, klapprige Masse schob sich da seine schöne Fassade hoch. Manchen fehlte ein Arm oder ein Unterkiefer, aber das bremste ihren Tatendrang nicht.
Und flink waren sie. Yuriko hatte sich kaum von seinem Schreck erholt, da krallten sich die ersten Knochenfinger in die Dachrinne. Yuriko schnellte in die Höhe, machte einen Schritt rückwärts das Dach hinauf und holte tief Luft.
Eine gewaltige Flammenwolke empfing die ersten Toten, die ihre kahlen Schädel über die Dachrinne erhoben. Rauch stieg auf. Yuriko atmete Feuer aus, bis nichts mehr kam. In der Dachrinne brannte ein Vogelnest. Die toten Dinger brannten nicht. Sie schoben sich unbeirrt aufs Dach, hielten sich aneinander fest, kletterten übereinander hinweg und verursachen mit ihren toten Knochen ein grauenvolles Scharren auf den Dachschindeln. Yuriko rettete sich auf den Dachfirst. Unter ihm im Haus rumorte es. In seinem Garten bellte der Höllenhund. Vielleicht brannte der ja besser?
Yuriko rutschte auf der Gartenseite das Dach hinunter, das dürre Kratzen der toten Dinger im Nacken. Unter seinem Gewicht wackelten die Dachschindeln. Er stemmte einen Fuß in die Dachrinne und beugte sich vor, um nach unten zu sehen. Da war das Hinterteil des Monsterhundes. Scheinbar versuchte er, sich unter dem Haus durchzugraben. Warum waren Hunde angeblich die besten Freunde des Menschen? Vermutlich, weil der Mensch gerne jemanden um sich hatte, der dümmer war als er selbst.
Yuriko zog sich einen Feuerball auf die Hand, erhitzte ihn bis zur Weißglut und ließ ihn auf den Hund fallen. Der jaulte fürchterlich auf und begann, seinen brennenden Schwanz zu jagen. Yuriko warf einen zweiten Feuerball, verfehlte den Hund aber und setzte stattdessen Gestrüpp in Brand. Funken stoben in den Abendhimmel, doch Yuriko blieb keine Zeit, um sich Sorgen zu machen. Die toten Dinger quollen über den Dachfirst und wälzten sich auf ihn zu, klappernd, raschelnd, knirschend und knackend. Das Dach gab ein hölzernes Stöhnen von sich. Ohne nachzudenken, holte Yuriko Luft und blies eine gewaltige Flammenwolke gegen seine Angreifer, größer und viel heißer als die erste. Reste von Haut, Haaren und Organen fingen Feuer. Es stank fürchterlich. Doch dass sie brannten, machte ihnen ebenso wenig zu schaffen wie die Tatsache, dass sie tot waren.
Der erste verlor den Halt und stürzte dachabwärts auf Yuriko zu. Der passte ihn mit einem Faustschlag ab und beförderte ihn über die Dachrinne nach unten. Ein zweiter folgte, den Yuriko einfach an sich vorbei in die Tiefe schlittern ließ. Doch es waren zu viele. Knochenfinger griffen in Augenhöhlen, Schienbeine verhakten sich mit Rippen, Knochenfüße benutzten Wirbel als Steighilfe, Beckenschaufeln dienten als Stütze für Schlüsselbeine.
Blick über die Schulter nach unten. Der brennende Hund raste durch den Garten. Beinahe war Yuriko versucht, das Wagnis einzugehen und zu springen. Er blies eine weitere riesige Flammenlohe über die toten Dinger und trieb sie damit zumindest eine Armlänge zurück. Von der anderen Seite des Daches jedoch drängten neue nach. Beide Wogen trafen sich über dem Dachfirst, türmten sich zu einem grausigen Mahnmal der Sterblichkeit, reglos für den Bruchteil eines Augenblicks, dann sich langsam nach vorne neigend.
Yuriko suchte Halt am Dach. Der Hund war immer noch da und sah schrecklich wütend aus. Der Firstbalken gab ein hässliches Knirschen von sich. Plötzlich hing das Dach durch. Ziegel verabschiedeten sich klappernd und klirrend nach unten. Löcher taten sich auf, dann gab es einen Knall wie von gespaltenem Holz und eine gewaltige Staubwolke.
Das Mahnmal der Toten stürzte ein. Nein, das ganze Dach stürzte ein. Fassungslos sah Yuriko zu, wie es vor ihm einfach versank – Sparren und Schindeln und Strohdämmung und alles. Der große Firstbalken, schwarz verkohlt und in der Mitte gebrochen, streckte seine beiden Enden anklagend in den Abendhimmel, bevor er mit gewaltigem Lärm im Haus verschwand. Plötzlich hatte Yuriko freie Sicht zum Horizont. Er beugte sich vor und spähte in das Loch, das sich vor seinen Füßen auftat.
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