Kapp. 46ff. vertiefen in verschiedenen Anläufen diese am Zion orientierte Verklärungseschatologie. 46,1 führt die 45,3 angekündigte Gerichtsszene visionär aus. Henoch sieht den Betagten und den Auserwählten mit den Attributen der himmlischen Reinheit. Der Betagte hat ein Haupt weiß wie Wolle und ‚der bei ihm‘ ein Antlitz wie das eines Menschen und zugleich anmutig wie das von einem Engel. Der bei Gott Seiende ist das Urbild der zur engelgleichen Heiligkeit verklärten Gemeinde der Gerechten. Als Repräsentant der Gemeinde ist er nach 46,3 Ursprung ihres himmlischen Wissens.65 Er steht ganz in der himmlischen Gerechtigkeit, und dieser entspricht die irdische Seite seines menschlichen Lebens in Rechtschaffenheit.66 Er ist bei Gott, um vom Zion aus die fremden Herrscher zurückzuweisen: Sie werden in die Finsternis (= Zionsferne) eingehen und nicht von den Toten auferstehen.67 V. 7 trägt nach, dass auch die innerjüdischen Opponenten, die die ‚Sterne des Himmels‘, die Glieder der apokalyptischen Gemeinde,68 richten, aus den Häusern seiner Versammlung und der Gläubigen vertrieben werden, „die da aufbewahrt sind bei dem Herrn der Geister.“ (46,8) Bei der eschatologischen Verklärung der Gemeinde wird sie von Leugnern gereinigt. Die Sünder, mögen sie sich auch zum Gottesvolk rechnen, haben nicht Anteil an der himmlischen Segnung, während für die Gerechten jetzt schon die heiligen Engel vor Gott ihre Gebete darbringen (Kap. 47). ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ werden in den Tagen des Endgerichtes vor Gott ihre Wirksamkeit zeigen, in diesen Tagen (des geschichtlichen Weitergangs69) aber sorgen die himmlischen Heiligen dafür, dass Gott ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ annimmt. Auch hier ist die Verklärung von Gemeinde, Himmel und Erde eine gegenwärtig verborgene Realität der kultischen Gemeinschaft der leidenden Gemeinde mit den heiligen Engeln.
Nach 48,1 haben die himmlischen Gerechten, Heiligen und Auserwählten einen ‚Brunnen der Gerechtigkeit‘ und viele ‚Brunnen der Weisheit‘. An die Zionstradition erinnern die Wasser, die die Schöpfung erquicken.70 Die Gerechten, die jetzt schon in den himmlischen, paradiesischen Teil des Zion eingegangen sind, bekommen aus diesen wunderbaren Wassern die himmlischen Gaben, die zum Wohnen im Bereich himmlischer Heiligkeit befähigen: ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘. Das kultisch gesegnete Leben ist für die himmlische Zionsgemeinde Wirklichkeit. Mit Kap. 50 werden die in Kapp. 48f. angedeuteten Zionsmotive zu einer Umwandlungslehre ausgeformt: „In jenen Tagen wird eine Umwandlung für die Heiligen und Auserwählten stattfinden.“ (50,1) Immerwährendes Tageslicht wird über ihnen wohnen, dazu Herrlichkeit und Ehre.71 Die Herrlichkeit der Zionsgemeinde wird die Sünder in das Unheil ausstoßen, aber diejenigen, die diese Herrlichkeit sehen und Buße tun, werden dadurch gerettet werden.72 Mit der Verklärung der dann lebenden Gemeinde der Heiligen und Auserwählten einher geht die Rückgabe der Toten aus Erde, Scheol und Hölle (51,1). Der Auserwählte, der auf dem Thron sitzt, wird die Gerechten und Heiligen unter ihnen auswählen; offenbar sind nach 51,2 auch die Heiligen und Gerechten dem Totenreich anheimgegeben und keinesfalls bereits in einen paradiesischen Zwischenzustand eingegangen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass mit dem Thronen des Auserwählten die Verklärung der Gemeinde einhergeht: Die anderen Berge weichen furchtsam vor dem Zion zurück;73 „alle werden Engel im Himmel werden. Ihr Antlitz wird vor Freude leuchten, weil in jenen Tagen der Auserwählte sich erhoben hat, die Erde wird sich freuen, die Gerechten werden auf ihr wohnen …“ (51,4f.). Durch die Verklärung und Engelwerdung hört der jetzt bestehende, der Schöpfungsordnung nicht entsprechende Auseinanderfall von Himmel und Erde auf; die auf der Erde wohnenden Verklärten wohnen um den himmlisch-irdischen Zionsberg herum.
Die 3. Bilderrede nennt in Kap. 58 die Verklärung der auserwählten Gerechten als Ziel der eschatologischen Seligkeit. Kultische Segensfülle wird ihnen zukommen: ‚herrliches Los‘74, ‚Licht der Sonne‘75, ‚Licht ewigen Lebens‘ (V. 2f.). Ihre Lebenstage als Heilige werden kein Ende haben (V. 3). ‚Licht‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Frieden‘ werden sie finden, ja der Himmel steht ihnen offen: Dort werden sie die Geheimnisse der Gerechtigkeit und das Los des Glaubens finden (V. 4f.). Freilich wird der Himmel nicht wie jetzt ein von der Erde getrennter Raum sein; indem auf der Erde die Finsternis ganz dem Licht weichen muss, so treten Himmel und Erde in eine neue, im ursprünglichen Sinne schöpfungsmäßige Beziehung zueinander. Die in aller Fülle kultisch gesegnete Erde ist der Zielort dieser zionstheologischen Apokalyptik. Nochmals wird deutlich, dass die traditionell kultische Beziehung zur himmlischen Welt, wie sie in besonderer Weise in der Zionstheologie geschichtlich ausgestaltet ist, die apokalyptische Perspektive trägt und allererst ermöglicht. Für diese Art Kultapokalyptik ist es entsprechend charakteristisch, dass in ihr die Segnungen der himmlisch verklärten Erde mit den Geheimnissen der Schöpfungsordnung zu tun haben. Das kultisch segnende Licht über der verklärten Zionsbürgerschaft ist eine Sonderform des in der Schöpfung waltenden Lichtes der Sterne und Blitze (Kap. 59). Kapp. 61ff. entfalten dann wieder im Visionsstil die in 58 in der Form des Makarismus vorangestellte, lehrmäßige Zusammenfassung. Zentralmotiv in 61,4a ist die Enthüllung der himmlisch-irdischen Gemeinschaft der dann verklärten Gemeinde: „Die Auserwählten werden anfangen bei den Auserwählten zu wohnen.“ Dazu bringen die Engel die Maße, mit denen die Geheimnisse der Gerechtigkeit und des Glaubens ergründet werden können, „damit sie (die Gerechten) sich für immer und ewig auf den Namen des Herrn der Geister stützen“ (61,3). ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Glaube‘ sind ebenso himmlische Schöpfungsgeheimnisse wie die Tiefe der Erde. Die verklärende Gemeinschaft mit den Auserwählten beginnt nach 61,1-5 mit der Offenbarung dieses himmlischen Wissens und geht hinüber in die Darstellung des himmlischen Gerichtes. Der Auserwählte wird himmlisch inthronisiert, begleitet von einer akklamierenden Anbetung durch die Himmlischen, die einstimmig, in einem Licht, in Weisheit und im Geist des Lebens geschieht. Dieser das Gericht begleitende einstimmige Lobgesang vereint Himmlische und Irdische (61,8-13).76 Auch das Bild dieser kultischen Gerichtsszene stammt aus der Zionseschatologie: Kap. 62 bringt als Ausführung zur Gerichtsszene die Aufforderung Gottes an die irdischen Könige, auf den Auserwählten zu schauen, wie er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzt.77 Die irdischen Herrscher müssen geradezu in das Lob Gottes und seines Auserwählten einfallen, aber sie werden von der Erde vertilgt. Nun wird der verklärte Endzustand der Gemeinschaft der irdisch-himmlischen Gemeinde aus Heiligen und Auserwählten einkehren. Die Schekina kommt mitten unter sie, und sie werden gesegnete Lebensgemeinschaft mit dem Menschensohn in Ewigkeit haben (62,14). Die verklärte Gemeinde erhält himmlische Kleider der Herrlichkeit und Reinheit. Die Einwohnung der Schekina in der verklärten Gemeinde, (Opfer-)Mahlgemeinschaft mit dem Menschensohn und Bekleidetwerden mit himmlischer ‚Dienstkleidung‘ bilden den Abschluss der zionstheologischen Verklärungslehre.
Die Eschatologie des 1Hen besteht im Zentrum also offenbar in einer apokalyptischen Ausgestaltung der Verklärungslehre, wie sie in der biblischen Tradition an der Zionserwartung hängt. Über die biblische Grundlage hinaus weist die explizite Formulierung einer Engelgestaltigkeit der verklärten Gemeinde und ihres himmlischen Repräsentanten. Schon terminologisch durchbricht 1Hen mitunter die sonst durchgehaltene Trennung von (irdischen) ‚Gerechten und Auserwählten‘ einerseits und (himmlischen) ‚Heiligen‘ andererseits.78 Damit ist deutlich, dass die normale der Schöpfungsordnung entsprechende Trennung von Mensch und Engel, himmlischer Gemeinde und irdischer Gemeinde, ja von Himmel und Erde nicht absolut gilt. Das Noahbuch nennt in 69,11 einen Grund: Die Menschen sind im Ursprung nicht anders als die Engel geschaffen worden, damit sie gerecht und rein bleiben; deswegen sollen sich die Gerechten in Engelgestalt zurückwandeln (51,4). Diese angelogische Anthropologie hat kultische Wurzeln.79 Der Himmel ist der Bereich göttlicher Heiligkeit und Reinheit; deshalb heißen die Engel ‚Heilige‘ und ‚Weiße‘ .80 Der Himmel ist für 1Hen, und wohl für das ganze antike Judentum, kultisch bebildert. Die irdische Kultgemeinde partizipiert an einem Kultort, der aus der himmlischen Heiligkeit als Sitz der Gegenwart Gottes abstrahlt. Die Teilnehmer am irdischen Kult kommen in Kontakt mit einer überirdischen, himmlischen Heiligkeit; dies ist ein gefährlicher Kontakt, sofern man als Mensch der himmlischen Heiligkeit entsprechen müsste, was man nicht kann. Daraus entsteht die Erwartung einer Verwandlung in himmlisch-engelmäßige Reinheit und Heiligkeit.
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