Was das Thema der ‚himmlischen Welt‘ betrifft, so verbindet die Legende mit Jose ben Joezer die Erwartung der Entrückung des Gerechten in seiner Todesstunde in den Gan Eden.9 Jose ben Joezer sah in der eigenen Todesstunde den von den Syrern eingesetzten Hohenpriester Alkimus, ihm, dem Jose, zuvorkommend, in den Garten Eden gelangen, nachdem dieser aus Reue an sich die vier Todesstrafen des biblischen Kriminalrechts vollzogen hatte. An dieser Legende ist interessant, dass der priesterliche Pharisäismus die Entrückung des Gerechten ohne Auferstehungslehre und ohne Bemühung einer Seelenlehre auszudrücken vermag. Auch hier liegt es nahe, Nachklänge älterer, priesterlicher Kultspiritualität und ihrer Entrückungslehre10 zu sehen: Der priesterlich-pharisäische Chassid weiß, dass er Zugang zu einem Bereich kultischer Reinheit hat, die der Reinheit der Himmlischen und Gerechten im Gan Eden nahekommt.
4. Joshua ben Perachia und Nittai aus Arbela (um 110 v. Chr.)
Joshua ben Perachia und Nittai aus Arbela – beide gehören in die späte 2. Hälfte des 2. vorchr. Jh. – bilden nach MAb 1,6f. das nächste Jochpaar. Die ihnen zugeschriebenen Sprüche stehen in einem Verhältnis der Ergänzung und Spannung zueinander; sie beschreiben die Bildung der pharisäischen חבורה und das dementsprechende Verhältnis des Pharisäers zu seinen Mitmenschen.
Zur Bildung der חבורה gehört die Sammlung einer Schülergruppe um einen Lehrer einerseits – so Joshua ben Perachia – und die Trennung von üblen Nachbarn und Schuldigen andererseits, so Nittai.
bSchab 127b kennt die anonym tradierte Sentenz: „Wer seinen Nächsten nach der Seite des Verdienstes beurteilt, über den wird ebenfalls nach der Seite des Verdienstes geurteilt werden“; der Kontext betont den Zusammenhang von jetzigem irdischen Verhalten und einstigem, jenseitigen Ergehen. Demgegenüber hat die auf Joschua ben Perachia zurückgeführte Überlieferung in MAb 1,6f. ihre eigene Zuspitzung, weil sie das Verhalten nicht auf den חבר sondern auf כל אדם bezieht. Die ergänzende Parallelisierung mit dem Spruch des Nittai – ‚überlass dich nicht dem Zweifel an der Vergeltung‘ – unterstreicht im antisadduzäischen Sinn den eschatologischen Vorbehalt des Pharisäismus. Der Spruch des Joshua ben Perachia bildet in seiner umfassenden Schlichtheit eine Aufnahme des kultisch getragenen Gottesverhältnisses und der in ihm begründeten גמילות חסידים. Wie der Tempel für den Priester, so bildet die Chavurah für den Pharisäer die Grundlage seiner reinen und heiligen Lebensform. Die Abgrenzung vom Unreinen und Unheiligen erschöpft sich jedoch hier wie dort nicht im Rückzug, sondern ist mit dem Anspruch verbunden, eine für das ganze Volk segnende und sündentilgende Kraft zu haben. Der חבר ist in der Lage, alle Menschen nach der Seite des Verdienstes zu beurteilen, so wie der Priester den Anspruch hat, Unreinheit und Sünde zu tilgen. Der Pharisäismus übernimmt offenbar zunächst das kultisch-positive Gottes- und Menschenbild und kommt ohne eine allzustarke Betonung der eschatologischen Scheidung und ihrer irdischen Vorwegnahme aus.1
5. Judah ben Tabbai und Simeon ben Shetach (um 90 v. Chr.)
Die in MAb nächstgenannten Judah ben Tabbai und Simeon ben Shetach gehören in die Zeit des Königs und Hohenpriesters Alexander Jannäus (103-76 v.Chr.). Die in MAb 1,8f. aufgeführten Kernsprüche zeigen sie als abwägende Juristen, die sich vor allem im Zeugenrecht und im Umgang mit Beschuldigten durch Unvoreingenommenheit und Sorgfalt auszeichnen.
Dazu passt die von Simeon ben Shetach überlieferte Legende bSanh 37b, wonach er einen von einem einzigen Zeugen bei einem Mord Ertappten unter den Schutz des Gebotes des Doppelzeugnisses stellt. Ebenso liegt auf dieser Linie sein Eintreten nach bMakk 5b gegen seinen Jochgenossen, der einen Falschzeugen töten lassen will 1, wogegen Simeon ben Shetach die mäßigende Halacha betont.2
Der größere Block der mit Simeon ben Shetach verbundenen Tradition zeigt ihn jedoch als Eiferer, der mit der späteren Halacha, welche die Mischna im mäßigenden Sinne normiert, in Konflikt steht. Die literarisch älteste Berührung dieses Punktes begegnet MSanh 6,5, wo die Tat des Simeon ben Shetach, nämlich 80 Hexen auf einmal hingerichtet zu haben, als nicht der Halacha entsprechend bezeichnet wird.
Die Legende von Simeon ben Shetach und den 80 Hexen3 nennt im ältesten Stoff als Begründung für sein Vorgehen „die Stunde benötigte das“ (jSanh 6,9 23c).4 Sein Eifer ist nur durch die besondere Situation gerechtfertigt.
Nach bSanh 19a lädt er den König und Hohenpriester Alexander Jannäus – aufgrund des Vergehens eines seiner Knechte – als Mitangeklagten vor das Synhedrion und verlangt von ihm die Respektierung der göttlichen Autorität des Gremiums5 durch Aufstehen. Dies bedeutet, dass der Pharisäer für dieses Gremium, auch gegenüber dem König und in Konkurrenz zum Hohenpriester, das uralte Kultrecht der Repräsentation Gottes beansprucht. Alexander Jannäus verwendete nach einer anderen Legende (bKidd 66a) seinerseits gegen die Pharisäer die alte kultrechtliche Legitimationsform des auf dem Hochpriesterdiadem eingravierten Gottesnamens. Er verweigert das Aufstehen und befragt die übrigen pharisäischen6 Mitglieder des Gremiums. Als diese einer Entscheidung im Sinne des Simeon ausweichen, lässt dieser – so die Legende – den Himmel durch den Engel Gabriel eingreifen, der die Sanhedristen tötet. In diesem übertriebenen Eifer sieht die Gemara eine Bestätigung der mischnischen Halacha, die den König der irdischen Gerichtsbarkeit entzieht.
Dieser Eifer des Simeon ben Shetach entspricht der zugespitzten Situation einer verschärften Auseinandersetzung der Pharisäer mit den Hasmonäern unter Alexander Jannäus. Gegenüber dem machtpolitisch verkommenen Hochpriestertum und der sadduzäischen Partei will Simeon ben Shetach die Autorität der Leitung des Gottesvolkes auf das – pharisäisch besetzte7 – Synhedrion übertragen. Die Autorität der kultrechtlichen Ordnung des Gottesvolkes hängt nach seinem Anspruch nicht mehr am Hohenpriester, der sich des Gottesnamens zu Unrecht bedient, sondern am Synhedrion, das die Gottheit repräsentiert. Bezeichnend ist, dass die Tradition mit dem Wirken des Simeon ben Shetach den Anspruch verbindet, die segnende Kraft, die traditionell vom Kultus ausgeht, wieder hergestellt zu haben:
„‚Ich gebe euch Regen zu ihrer Frist‘ (Lev 26,4). ‚Zu ihrer Frist‘: in den Nächten der vierten Tage und in den Nächten der Sabbate.8 Denn so finden wir es in den Tagen des Simeon ben Shetach, in denen der Regen in den Nächten der vierten Tage und in den Nächten der Sabbate fiel, dass der Weizen wie Nieren, die Gerste wie Olivenkerne, die Linsen wie Golddinare wurden. Man bündelte davon zum Zeichen für zukünftige Geschlechter einiges ein, um ihnen zu weisen, wie viel die Sünde bewirkt. Wie gesagt ist (Jer 5,25): ‚Eure Verfehlungen haben dies nun verborgen, eure Versündigungen haben euch das Gute verwirkt‘. Und so finden wir es auch aus den Tagen des Herodes: als sie mit dem Bau des Heiligtums sich mühten, fiel der Regen in den Nächten, am Morgen aber wehte ein Wind, die Wolken zerstreuten sich und die Sonne erglänzte. Das Volk zog zu seiner Arbeit aus und wusste, dass es eine Himmelsarbeit in Händen habe.“ (bTaan 23a)
Der Tempel gibt Segen; wenn jemandes Wirken mit einer segnenden Kraft für ganz Israel verbunden ist, dann entsteht daraus die Frage, wie und ob dieses seinen Segen hervorbringendes Wirken mit dem Tempel zusammenhängt. Auf diese Frage gibt die Tradition eine deutliche Antwort: Simeon ben Shetach ist Reformer des Synhedrions, dessen eigenständiges Recht er gegen das verderbte Hochpriesteramt und Königtum durchsetzt. Während das üble Handeln des Alexander an den pharisäischen Weisen die Welt zum Veröden bringt, lässt Simeon ben Schetach sie wieder aufleben, indem er die Tora auf ihren Urstand zurückführt.9 Auch nimmt Schimon ben Shetach die klassische Aufgabe des Kultes wahr, Götzendienst und Zauberei zurückzudrängen. Entsprechend geht er nach der Tradition auch gegen ‚Choni der Kreiszieher‘ vor,10 der den Gottesnamen in einer der Magie verdächtigen Regenbeschwörung verwendet. In Choni begegnet ein ‚Konkurrent‘, der nicht wie die Pharisäer auf die rechtliche Grundlage des Kultes zurückgreift, sondern die in ihm liegende Macht zur Bestätigung der Schöpfungsordnung charismatisch verwendet.
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