Die Entstehung von Michelangelos Moses hat eine lange Geschichte. 1505 bekam der gerade mal dreißigjährige Künstler vom 1503 gewählten Papst Julius II. den Auftrag, für ihn ein Grabmal zu konzipieren, zunächst vorgesehen für die Aufstellung in der Peterskirche, die gerade im Entstehen war. Realisiert wurde das Projekt schließlich 40 Jahre später, lange nach Julius´ Tod im Jahr 1513, als abgespecktes Programm in der Kirche S. Pietro in Vincoli, an der Julius als Kardinal Giuliano della Rovere gewirkt hatte. Aufgrund der langen Entstehungszeit, der Reduktion des Projekts und der Mitwirkung vieler Künstler weist das Grabmal kein kohärentes ikonographisches Programm auf. Es entsprach in seiner Realisierung auch nicht mehr Michelangelos Intention. Nach seiner Konzeption hätte Moses, da auf Untersicht gearbeitet, seinen Platz freistehend und auf einer oberen Plattform in einer Figurennische finden sollen. Michelangelo beschrieb daher das endgültige Figurenensemble enttäuscht als o pera risecata, als abgeschnittenes Werk.
Die Marmoranlage ist zweigeschossig. Im oberen Geschoss befindet sich Maria mit dem Kind in der Mitte, darunter der Sarkophag mit der Liegefigur Julius´ II., rechts und links je eine Figur, eine Sybille und ein Prophet.
Nur die drei Statuen im Untergeschoss sind Michelangelos Werk, Rahel zur Linken von Moses stellt allegorisch die v ita contemplativa dar, Lea zu seiner Rechten die v ita activa. Die zentrale Figur jedoch ist und bleibt Moses in der Mitte. Michelangelo hat sie wahrscheinlich schon 1515 fertiggestellt. Sie unterscheidet sich deshalb in ihrer Ausführung deutlich von den beiden Frauengestalten. Neben der Pietà in der Peterskirche, von Michelangelo zwanzigjährig geschaffen, stellt sie sein zweites Meisterwerk im Stil der Hochrenaissance dar. In ihrer heroischen Monumentalität und Expressivität zieht die Mosesgestalt jeden Betrachter in den Bann, und sie hat im Laufe der Jahrhunderte zu vielfältigen Deutungen den Anlass gegeben und Künstler immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Sujet und seiner Darstellung herausgefordert.
Abb. 1: Hans Joachim Madaus, Hommage à Michelangelo
Das Antlitz von hoher Schönheit ist das eines wahrhaft heiligen und ehrfurchtgebietenden Fürsten; bei seiner Betrachtung meint man, er werde nach einem Schleier verlangen, um sein Angesicht zu verhüllen – so viel Licht und Glanz strahlt es aus, so treulich ist die Herrlichkeit dargestellt, die Gott den Zügen des Propheten verliehen hatte…, kurz, alle Teile sind so herrlich vollendet, dass man Moses nun mehr denn je den Liebling Gottes nennen kann, da er ihm vor allen anderen durch die Hand des großen Michelangelo den Leib zur Auferstehung hat bereiten wollen.
(Giorgio Vasari, S.503)
Die Stifterfigur Moses, heute fast einhellig als historische Figur betrachtet, fasziniert außer Theologen und Ägyptologen, die sozusagen berufsbedingt mit Moses zu tun haben, die unterschiedlichsten Menschen, Psychoanalytiker (Siegmund Freund), Künstler und Schriftsteller, ja sogar Musiker.
Abb.2: Hans Joachim Madaus, Partitura Ricardi, Illustration zu Rossinis Oper: Moses in Ägypten, Mischtechnik, 1994
Abb.3: Hans Joachim Madaus, Partitura Ricardi, Illustration zu Rossinis Oper: Moses in Ägypten, Mischtechnik, 1994
Gioacchino Rossinis große dreiaktige Oper Mosé in Egitto – Moses in Ägypten, die Rossini 1818 für die Passionszeit komponierte, wird zwar nicht allzu häufig aufgeführt, vor nicht so langer Zeit beispielsweise 2009 bei den Salzburger Festspielen und 2018 in Bregenz am Bodensee, aber zumindest die große Liebesarie von Elcia und Osiride ( mi manca la voce – mir versagt die Stimme ) und das große Gebet der Israeliten vor dem Durchzug durch das Rote Meer am Ende des dritten Aktes ( Dal tu stellato soglio, Signor, ti volgi a noi – Von deinem Sternenthron, o Herr, wende dich zu uns ) sind jedem Opernfreund bekannt. Das Gebet aus dem Finale des Moses wurde zusammen mit dem Gefangenenchor der Hebräer ( Va pensiero, sull´ali dorate – Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen ) aus Verdis Nabucco sogar zur Befreiungshymne Italiens. Vor allem die Chöre dieser Oper sind, wie die großen Romanciers des französischen Realismus und Bewunderer Verdis, Stendhal (der französische Konsul Henri Beyle, der sich als Autor nach Winckelmanns Geburtsort, der Hansestadt Stendal, Stendhal nannte) und Honoré de Balzac rühmen, von erhabener Heiligkeit und preisen sinnfällig und emotionsgeladen die Macht Jahwes. Sie erinnern allerdings – thematisch logisch – eher an ein Oratorium als an eine Oper; nicht von ungefähr wird in der Kritik deshalb immer wieder auf Haydns Schöpfung oder Mozarts Requiem verwiesen. Die Nähe zur katholischen Kirchenmusik wiederum hat beispielsweise den Protestanten Goethe abgeschreckt. Seiner Meinung nach gehören Gebete ins stille Kämmerlein und nicht in die Oper. – Diese Meinung muss man allerdings nicht unbedingt teilen!
Der Pentateuch, die fünf Bücher Moses, stellen eine literarische, allmählich gewachsene Einheit dar. Ihre Konzeption ist sehr kunstvoll, was sich auch am zweiten Buch, dem Buch Exodus, entstanden wahrscheinlich im 6. Jahrhundert v. Chr., zeigt.
Dieses besteht aus zwei Teilen. In den Kapiteln 1-18 wird der Auszug der Israeliten aus Ägypten und ihre vierzigtägige Wanderung durch die Wüste zum Berg Sinai geschildert. Der zweite Teil, Kapitel 19-40, umfasst die Erscheinung Gottes am Sinai, den Bundesschluss, den Tanz um das Goldene Kalb (32,4), die Erneuerung des Bundesschlusses und die Übermittlung des Dekalogs, der 10 Gebote (Ex 20,1-17), und weitere Vorschriften und liturgische Bestimmungen. Die beiden Teile werden durch die Person Moses zusammengehalten. Zu Beginn ist Mose der Retter der Israeliten, ihr Führer durch die Wüste und das Rote Meer, im zweiten Teil der Übermittler von Gottes Willen und so die zentrale Mittlergestalt zwischen Gott und den Israeliten. Rettung, Erlösung und Befreiung sind in seiner Person paradigmatisch miteinander verflochten.
Mit Moses geschah ein Sprung im religiösen Bewusstsein, und er ward durch ein Ereignis vorbereitet, das den bisherigen Religionen … das entgegengesetzteste ist: durch Rebellion, durch den Auszug aus Ägypten.
Der Sinaigott … blieb durch Moses nicht der Lokalgott eines Vulkans, er wurde zum Geist des Exodus
(Hervorhebung von Ernst Bloch, S.1453)
Gott selber steigt herab, um sein Volk der Hand der Ägypter zu entreißen (Ex 3), mit dem Versprechen, es ins Gelobte Land zu führen, ins Land, in dem Milch und Honig fließen (Ex 3,8). Gott, der Ich bin, der ich bin, geht seinem Volk in einer Wolkensäule voraus (13,21), zieht mit ihm durch die Wüste, speist es mit Manna, das wie Honigkuchen schmeckt (16,31), kommt in einer Wolke, wenn er mit Moses spricht, und will, dass es alle hören (19,9), er ist ein präsenter und deshalb vielleicht auch ein eifersüchtiger Gott: Moses muss ihn beschwören und inständig bitten, von seinem Zorn gegen die treulosen Israeliten abzulassen. Er erinnert ihn erfolgreich daran, dass dieses sein auserwähltes Volk ist, das er aus Ägypten geführt hat, worauf sich Gott erweichen lässt, – allerdings nur um Mose willen, wie Jahwe selber ausdrücklich sagt. (Ex 32,12-17).
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