Damit ist es nun nichts. Und jedes Kind gehört nun einmal zu seiner Mutter oder seinem Vater. Und Tante Mumme wird auch lieb zu Christian sein. Aber vielleicht schreibst Du ihm auch mal einen solch lieben und lustigen Brief wie mir neulich? Ich bin, offen gestanden, ein bißchen bange, wie er sich bei uns einrichtet. Wenn Du da wärst, wär das leichter.
Nun sieh zu, daß Du Deiner kleinen neuen Freundin ein rechter guter Kamerad durch dick und dünn wirst! Weißt Du, es kommt viel mehr darauf an, daß man Freude bringt, als daß man selbst welche erfährt. Und Erika braucht wohl eine Freundir, wie mir scheint. Daß Du Deine Mutter liebhaben und ihr keinen Kummer machen wirst, nehme ich selbstverständlich an. Grüße sie, an Erika liegt ein Zettel bei. Aber vergiß auch nicht und behalte fest in Deinem Herzen Deinen alten Doktoronkel.“
„Reni, was ist?“ fragte Erika scheu, als Reni sich gar nicht rührte. Sie hatte beide Hände in die Backen gestützt und die Ellenbogen aufgestemmt, so saß sie und starrte auf den Brief herunter. Schon viele Minuten ... Sie mußte doch fertig sein mit dem Lesen, oder?
„Ja“, sagte sie jetzt auffahrend, und Erika konnte ihr Gesicht erkennen — Tränen waren das nicht. Oder noch nicht? Auf jeden Fall sah Reni ganz verändert und sehr ernst aus.
„Geht es, ich meine, ist der Onkel Doktor vielleicht kränker geworden?“ fragte Erika, „oder hat er sonst was Trauriges geschrieben?“
„Traurig — nein, doch, ja, seine Frau ist gestorben. Aber sie war schon lange von ihm fort“, sagte Reni verwirrt. Dann kniffte sie den Brief hastig wieder zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte ihn ins Lesebuch. „Fräulein Sonneson muß doch gleich wieder kommen, Frühstück ist wohl längst vorbei, oder nicht?“
„Aber du hast doch noch gar nichts gegessen“, sagte Erika ängstlich, „willst du nicht ...“
„Nein, danke ich hab’ keinen Hunger“, sagte Reni und schob den Teller mit den Broten fort, „auch keinen Durst, nein, danke wirklich. Was haben wir jetzt? Erdkunde?“
„Nein, Rechnen. Du weißt doch, die Aufgaben mit Prozent, die schweren ...“
„Ach ja.“ Reni beugte sich neben Erika über das Heft, und Erika sagte auch nichts mehr.
Am Nachmittag hatten sie die Erlaubnis bekommen, schwimmen zu gehen. Fräulein Sonneson wollte mitgehen — Mutter hatte keine Zeit. Es wäre natürlich viel schöner und lustiger gewesen, wenn Mutter mitgegangen wäre. Reni war ein bißchen verbockt, daß sie es nicht tat — sie sah nicht ein, daß Mutter sich nicht einmal eine Stunde für sie freimachen konnte. Schließlich saß sie doch abends nach Feierabend auch noch über den Gutsbüchern. Aus einem gewissen Trotz heraus hatte sie ihr deshalb auch noch nichts von dem Brief des Doktors erzählt ...
Der Fluß machte an der Stelle, an der der Mühlgraben abgeleitet wurde, eine Wendung, dadurch war er dort breiter und tiefer und ganz ruhig — auf der einen Seite fiel er über das Wehr hinunter, auf der andern schoß der schmale und reißende Mühlgraben in sein Bett. Bis dahin durfte man natürlich nicht schwimmen, denn da war die Strömung zu stark, aber ein Stück oberhalb war es herrlich und auch ganz ungefährlich. Man konnte sogar hineinspringen, mit einem flachen Hecht, der Grund war so weich und schlammig, daß es scheußlich war, hineinzugehen. Reni war glücklich, daß sie endlich wieder einmal schwimmen konnte, und tobte und lachte und schrie, und Erika ließ sich von ihr anstecken. Fräulein Sonneson hatte sich in den Schatten der am Ufer stehenden Weidenbüsche gesetzt und ließ die Mädel nicht aus den Augen, aber sie schalt weder, noch war sie überängstlich. So richtig beruhigt waren die beiden aber erst, als sie sahen, daß sie eine weiße Häkelei auspackte. Nun war sie untergebracht.
Weiter oberhalb lag ein Boot angekettet, das war natürlich eine willkommene Entdeckung. Es war alt, stand spannenhoch voll Wasser und man konnte es auch nicht losmachen, aber in dem Halbkreis, den die Kette zuließ, konnte man doch schön kahnfahren. Reni balancierte auf dem Rand und fiel dann ins Boot hinein, mitten in das darinstehende Schmutzwasser, und Erika lachte darüber so, daß sie auch das Gleichgewicht verlor. Aber sie waren ja schon naß, da schadete das nichts, nur ihre Haare tropften nun auch — sie hatten beide keine Bademützen und deshalb die Zöpfe hochgebunden gehabt, nun aber hingen sie wie nasse Schlangen um Hals und Schultern.
„Eklig — wollen wir sie uns nicht abschneiden?“ fragte Reni und lachte über Erikas Entsetzen. Dann verließen sie den Schauplatz ihrer Tätigkeit und schwammen zu Fräulein Sonneson hinunter.
„Wir wollen doch mal unters Wehr gehen“, schlug Reni vor, nachdem sie sich eine Zeitlang im Gras und in der Sonne geaalt hatten, „das denke ich mir herrlich, wenn es so auf einen runterhaut!“
„Daß euch aber nichts passiert — ich geh lieber mit!“ sagte Fräulein Sonneson und stand auf. Sie kletterten über den Hang hinunter, dorthin, wo das Wehr, das vielleicht drei Meter hoch herunterstürzte, auf die Steine aufschlug. Es riß da unten auch noch gewaltig, und die Steine waren naß und glitschig von Algen.
„Du kommst nicht bis ran!“ prophezeite Erika, die neben Reni stehengeblieben war, aber Reni versuchte es immer wieder. Sie stand in dem fußhohen, reißenden Wasser, das ihr bis an die Knie und manchmal bis an die Hüften hinaufschäumte, und schob sich immer näher heran, und dann — Erika schrie laut auf — verschwand sie auf einmal hinter dem dicken, gelblichen Wasservorhang. Sie war bis hineingekommen, nein, diese Reni!
Ein paarmal kam ihre Hand hervor, die aber von dem herabstürzenden Wasser sofort wieder heruntergerissen wurde, manchmal da, manchmal dort. Man mußte hinter dem Wehr hin und hergehen können, es war für die Zuschauer richtig spannend, wo sie nun auftauchen würde. Dann kam ein Fuß zutage — und dann auf einmal die ganze Reni, sie kam geschossen, auf dem Hosenboden sitzend, rutschte aus dem Wehr heraus, drehte sich um sich selber, fing sich wieder, rutschte von neuem weiter und kam dann lachend und triefend angekrochen, noch ganz taumelig und benommen. Erika sah ihr gespannt entgegen.
„Erzähl doch mal, kann man dahinter stehen?“
„Na, aber! Gut! Es ist wie hinter einem Vorhang, aber einen Krach macht das Wasser!“
„Ich will auch mal dahinter!“ zappelte Erika. „Komm, wir gehen miteinander!“
„Aber Kind, wenn dir was passiert!“
„Was soll mir denn passieren, Fräulein Sonneson? Reni ist doch auch nichts passiert, und sie ist ganzbeinig wieder rausgekommen, und meine Zöpfe sind sowieso schon naß. Oder ist da drin die Wassernixe?“ fragt Erika lachend, wenn auch trotz allem etwas ängstlich. Reni hatte sie schon an der Hand gepackt.
„Weder Wassernixe noch Wassermann, nur Wasser!“
Sie schoben sich, nebeneinander und fest angefaßt, wieder an das Wehr heran. Fräulein Sonneson sah ihnen mit ihren guten braunen Augen besorgt nach, mochte es aber nicht direkt verbieten. „Vorsicht!“ rief sie immer wieder. „Jaja!“ antwortete Reni dann, ohne den Kopf zu wenden, für sie beide. Sie mußten genau aufpassen jetzt.
Erika klammerte sich fest an Renis Hand und rutschte ein paarmal aus, aber sie blieben doch aufrecht. Immer näher kamen sie dem herunterstürzenden Schwall.
„Keine Angst! Einfach durch und rein!“ schrie Reni Erika durch das Tosen zu, und riß sie mit sich.
Erika war wie betäubt, man mußte schnell durch den Vorhang hindurch und dahinter, sie aber war nur hindurchgegangen und stand nun einen Augenblick, während ihr das Wasser auf Kopf und Schultern haute ...
„Du bist verrückt, hat’s weh getan?“ schrie Reni ihr ins Ohr. Erika schüttelte den Kopf, sie standen miteinander in der gelblichen, nassen Dämmerung, die hinter dem Wasservorhang herrschte, und es lief ihnen an den Gesichtern und Haaren herunter. Das ganze Wasser stürzte nämlich nicht im Bogen herab, sondern viel lief und spritzte auch daneben — es war jedenfalls ganz komisch und völlig neu hier. Wenn man sprach, bekam man es in den Mund, und in die Augen lief es einem auch dauernd. Reni steckte wieder die Faust in den Vorhang, da schlug ihr eine Sturzwelle an den Bauch — sie zog die Hand schnell wieder fort.
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