Lise Gast - Reni

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Die 11jährige Reni ist ausnahmslos glücklich: Sie hat viele liebe Freunde, lebt in einem Kindererholungsheim und alle 6 Wochen wird sie von neuen Spielkameraden besucht. Ein wunderschönes Leben, doch Reni leidet darunter, dass sie von ihrer Mutter getrennt ist. Doch zum Glück lässt sich das tapfere Mädchen nicht unterkriegen und weiss sich auch in schwierigen Situationen zu helfen. – Eine wunderschöne und mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Geschichte. Lesenswert!Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch «Tapfere junge Susanne». Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Reni

Geliebtes Heim am Berge

Meine Tochter hat’s nicht leicht

Brüder machen manchmal Kummer

Mit Zeichnungen

von Emmy-Claire Haag

Saga

Reni

© 1956 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509975

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Geliebtes Heim am Berge

Reni, wo sie wohnt, und wo sie herstammt

Ganz am Ende der Stadt, dort, wo Anlagen und Park in Wald und Berge übergehen, lag das Haus, in dem Reni wohnte. Das Haus ist übrigens nicht ganz richtig gesagt: eigentlich waren es zwei Häuser, die einander gegenüber lagen, breite, helle Häuser mit schokoladenbraunen Fensterläden und nachgedunkelten, roten Dächern, die weit vorsprangen und wie zu tief gezogene Mützen aussahen. Nicht wie gebaut lagen die Häuser da, sondern wie gewachsen, und damit sie nicht allein waren und sich fürchteten, war es, als gäben sie sich die Hand: hinten, den Raum, der zwischen ihnen lag, wie einen Hof abschließend, lief ein niedriges, breites kleines Gebäude entlang, so wie bei manchen Gasthöfen die Kegelbahn. Dies hier aber war keine Kegelbahn und auch kein Wintergarten, wie man es manchmal hat, es war etwas viel, viel Schöneres. Große, breite, fast bis auf die Erde reichende Fenster hatte es nach beiden Seiten hin, und unter den Fenstern liefen Heizkörper entlang, so daß es auch im Winter warm und zu benutzen war. Das war sehr wichtig, denn nicht nur Reni, sondern auch alle andern Kinder, die hier im Heim am Berge für längere oder kürzere Zeit zu Hause waren, liebten diese Gebäude noch mehr als die hellen Schlafsäle, den großen, getäfelten Wohnraum oder die gemütliche Küche. Wer kann raten, was es war? Niemand. Es war eine Turnhalle.

Dort, wo keine Fenster waren, gingen Leitern an den Wänden hoch, Leitern mit glatten, hellgelben Sprossen, an denen man bis an die Decke klettern und auch sonst die schönsten Übungen machen konnte. In der Mitte gab es einen Rundlauf, viermal Ringe zum Schaukeln und in einer Ecke auch Kletterstangen, schräge und gerade. Auch Sprungmatten waren da, Böcke, Pferde, Hochsprungholme, kurz, alles, was ein zehnjähriges Herz sich erträumt. Hinter der Turnhalle lag eine leichtansteigende Liegewiese, auf der im Sommer die Liegestühle mit den gestreiften Bezügen standen, und dann schloß sich gleich der Bergwald an, mit Bächen und Blaubeerkraut, mit Pilzen und Nadelholz und der herrlichsten, kräftigsten, wunderbarsten Bergluft.

Ja, und vorn, vor der Turnhalle, da war es auch so gemütlich wie in einer Stube. Da standen an dem einen Haus entlang eingerammte Tische mit Bänken davor und dahinter, und darüber wölbten sich alte, dicke Kastanienbäume, die im Frühling ganz weihnachtlich voller Kerzen gesteckt waren, manche mit weißen, manche mit roten Lichtern, — und im Herbst bescherten sie das allerschönste Kinderspielzeug, blank und glatt, rotbraun oder gescheckt, das aus stachlichen Hüllen platzte, jedes Jahr wieder, umsonst und ohne Bestellung. Es waren richtige liebe, vertraute, lebendige Bäume, und sie hatten auch Namen. Der eine hieß Alma, der andere Meta, und der dritte, der fast in der Mitte des Hofes stand und eigentlich schon viel zu alt war, denn er hatte einen ganz, ganz dicken Stamm, der schon hohl war, so daß man sich darin verstecken konnte, der hieß von alters her Henriette. Er sollte eigentlich längst gefällt sein, aber alle, von Tante Mumme angefangen bis zum kleinsten Küchenmädel herunter, erhoben ein lautes Gejammer, wenn der Doktor mit diesem mörderischen Vorschlag kam, und so blieb er von Jahr zu Jahr stehen. „Er wird euch noch auf die Köpfe fallen!“ drohte der Doktor, aber da lachten sie nur, denn sie wußten, daß der Doktor seinen Freund, den Förster, stets fragte, ob Gefahr bestünde. Und dann lachte der alte Rauschebart und sagte, solange das Haus hielte, hielte auch die Henriette.

„Tu doch nicht, als ob unser Heim eine alte, wacklige Bruchbude wäre, Onkel Oberförster“, sagte Reni einmal ganz wütend, als er so geantwortet hatte, und da lachte er noch mehr.

„Euer Heim — bewahre! Ich sage doch nichts gegen euer geliebtes Heim am Berge — wo werd’ ich denn, kleine Reni!“

Heute nun war dieses wunderschöne, lebendige und heißgeliebte Heim übrigens leer, jedenfalls fast leer, nur Tante Mumme war da, als Reni vom Bahnhof kam — sie hatte den letzten Schub Erholungskinder, wie sie das stets tat, zur Bahn gebracht. Es war immer ein bißchen traurig, wenn die andern abfuhren, obwohl die meisten versprachen, zu schreiben oder im nächsten Jahr wiederzukommen — aber sie taten in der Regel weder das eine noch das andere.

Dafür kamen neue Kinder, lustige und stille, Jungen und Mädel, große und kleine ...

Reni kannte das nun schon, so lange sie lebte — sie war das einzige Kind, das blieb. Wenn sie von der Bahn heimkam, war ihr immer zum Heulen zumute, und dann suchte sie schleunigst nach Tante Mumme. Wo? In der Küche. Die war dann immer tipptopp aufgeräumt, denn die Küchenmädel hatten in der Zeit, in der keine Kinder da waren, auch frei — ein einziger Herd von den vier großen, die in der Mitte der Küche wie ein Festungsblock lagen, brannte, und dort fand Reni Tante Mumme. Sie kochte sich Kaffee.

„Damit ich die Ruhe genießen kann“, sagte sie entschuldigend, aber Reni lachte nur. Andere Leute tranken Kaffee, um munter zu werden — jedenfalls sagte der Onkel Doktor so — Tante Mumme aber trank welchen, um schlafen zu können. Komische, kugelrunde, geliebte alte Tante Mumme!

„Was backen wir uns denn diesmal für einen Pausenkuchen?“ fragte Reni auch heute; es war die Frage, die ihr schon während des ganzen, einsamen Heimwegs auf dem Herzen gelegen hatte. Immer, wenn Pause war, wenn die ersehnten und gefürchteten drei Tage zwischen den Sechswochen-Erholungskindern eintraten, durfte sich Reni einen Kuchen ausdenken. Und das war um diese Zeit ein bißchen schwer: Kirschen gab es nicht mehr und Äpfel noch nicht. Blieb Quark oder Streusel — den konnte man aber auch im Winter haben.

„Ich weiß! Hobelspäne! Wenn auch weder Fastnacht noch Sylvester ist! Ich hab’ solchen Appetit auf Hobelspäne“, sagte Tante Mumme. Reni guckte vorwurfsvoll.

„Aber, Tante Mumme! Der Onkel Doktor mag doch keine — oder vielmehr, er mag sie zu sehr. Und er soll doch nicht!“

„Er ist doch nicht da, Kinding, die nächsten Wochen. Er verreist doch“, sagte Tante Mumme. Sie mußte ja schließlich einmal damit herausrücken, Reni mußte es erfahren. Sie hatte es ihr bisher nicht gesagt — hatte immer gehofft, er würde wenigstens so lange bleiben, bis der nächste Kindertransport da wäre. Aber es hatte sich nun doch nicht so gemacht ... Reni guckte entgeistert. „Der Onkel Doktor fährt weg? Heute schon?“

„Aber Kinding, du hast doch mich“, tröstete Tante Mumme. Sie wußte, wie ungeheuer zärtlich Reni an ihrem Bruder hing und daß ihr nichts die Pause so versüßte wie die Tatsache, daß ihr nun der liebe, gute, lustige, dicke Onkel Doktor allein gehörte. Er verwöhnte das Mädel, das war keine Frage, aber es war ja verständlich — er hatte doch sonst nichts vom Leben. Arbeit, Arbeit, Arbeit — er war so sehr beliebt in der Stadt und wurde überlaufen von Patienten, und am liebsten hätte er sich doch einzig und allein dem Kinderheim gewidmet. Das ging ja nun nicht, wie eben vieles auf der Welt nicht so geht, wie man gern möchte ...

„Aber warum hast du mir das denn nicht gesagt?“ fragte Reni nach einer Weile, in der sie stumm neben Tante Mumme am Herd gelehnt hatte. „Ich wollte dir das Herz nicht unnütz schwer machen“, sagte Tante Mumme leise. „Es geht dem Onkel Doktor nicht gut, weißt du. Er fährt nicht zum Vergnügen. Er soll sich endlich mal ganz auskurieren und erholen!“

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