Ja, es war sicher ein Zeichen vom lieben Gott, daß er einverstanden war mit ihrem Plan, daß er sie gerade heute dies Gedicht lernen ließ. Wie gut, daß man Geburtstage hat, zu denen man sich etwas wünschen darf — und daß der Wunschzettel dies Jahr noch nicht geschrieben war. Sicher war Mutti einverstanden — sonst mußte sie es eben beim Vater versuchen, mit allen Mitteln ... wenn sie ihn bat, bat und bettelte: „Vater, ich will auch schrecklich folgsam und vernünftig sein — und fleißig in der Schule und artig zu Hause — Vater, ich möchte doch auch mal eine Freundin haben dürfen, bitte, bitte, Vater ...!“
Und vielleicht tat er es auch Frau Jahnecke zuliebe, dachte sie, wenn sie verzagt werden wollte — denn, daß das ein großer Geburtstagswunsch war, fühlte sie deutlich. Er hatte Frau Jahnecke doch gern — sie war so tüchtig und nett. Ja, schon ihr zuliebe würde Vater nicht nein sagen!
Leben und Betrieb im Heim Reni passiert etwas Schreckliches
Es war nicht mehr still im geliebten Heim am Berge, o nein, ganz im Gegenteil. Wenn auch die Hauptperson, der Doktor, fehlte, wenn die Garage zublieb und kein Auto am Abend oder nachts oder gegen Mittag den Hang heraufbrummte — Leben war doch wieder eingezogen, vielfältiges und buntes und junges Leben. Erst kamen die Tanten zurück. Wer sich unter dem Wort „Tante“ etwas Altes, Umständliches oder Vertrocknetes vorstellt, der schießt vorbei: diese Tanten hier waren sämtlich jung, außer Tante Mumme, die nun schon jahrelang den Betrieb leitete. Die andern aber sahen aus wie große Schwestern von den Erholungskindern, mit kurzen Röcken und bunten Dirndlröcken und nackten braunen Beinen und den allerlustigsten Augen. Auch sie wechselten, wenn auch nicht so schnell wie die Kinder, aber länger als zwei Jahre war fast nie eine Tante hier, dann heiratete sie bestimmt.
Reni liebte am meisten die Tante Thea, die süße Tante Thea, die Turntante, an der aber auch alle andern Kinder immer am meisten hingen. Sie war klein und schlank und so biegsam wie eine Gerte, und es störte bei ihr nicht einmal, daß sie eine Brille trug. Ihre buschigen Haare flogen, wenn sie am Reck die Riesenwelle machte oder wenn sie wie ein Gummiball vom Trampolin wippte. Jetzt im Sommer waren alle Fenster in der Turnhalle heruntergelassen, so daß man dort wie im Freien spielte, wenn man an den Geräten war, und wieviel Bodengymnastik gab es draußen auf dem Hang, nur so zum Zeitvertreib und gar nicht in den „Stunden“!
Reni war um diese Zeit — wie immer, wenn Neue gekommen waren — so schwer beschäftigt, daß der Vormittag in der Schule eigentlich eine Erholung, ein Ausruhen bedeutete. Zu Hause, also im Heim, kam sie, außer beim Essen, keine Zehntelsekunde zum Sitzen. Die vielen neuen Kläuse und Peters, Lieselotten und Ingen zu behalten fiel ihr, da sie darin Übung hatte, gar nicht schwer; sie wußte auch immer, wohin jedes gehörte. Es gab drei Schlafsäle im Haus, einen für Mädel, einen für Jungen und einen für Kranke. Zuerst verliefen sich die Neuen sämtlich wie auf einem großen Schiff, und Reni mußte den Lotsen spielen. Sie kam die ersten Tage aus einem beständigen Schweinsgalopp nicht heraus.
Sie selbst hatte ein kleines Zimmer im andern Haus, in dem, das auf der linken Seite vom Hof stand, wo auch Tante Mumme und der Onkel Doktor wohnten. Es war nicht viel anders eingerichtet als ein winziger Schlafsaal, denn Reni wollte vor den andern nichts voraus haben — ein schmaler weißer Schrank stand darin, das Bett, ein Bücherregal — das allerdings war ein Sonderbesitz, aber doch nötig — und ein kleiner runder Tisch am Fenster. Oft wurde sie auch „eingeladen“, wenn sie sich mit einem Mädel besonders angefreundet hatte, und dann durfte sie für eine oder mehrere Nächte mit in einem Schlafsaal schlafen. Tante Mumme war darin großzügig und freundlich, seit Reni etwas größer geworden war. Dann wieder lud Reni die andern ein, zu ihr ins Zimmer zu kommen, und sie bewunderten dann ihre Bücher und Bilder, und erzählten von ihren eigenen Zimmern zu Hause, von ihren Freundinnen und Geschwistern.
Auf dem Tisch am Fenster stand ein schönes Bild, eine vergrößerte Photographie in einem schmalen, glatten Silberrahmen. Sie zeigt ein junges Mädel im Dirndlkleid und Spenzer, das auf einem großen Stein sitzt und sich gerade den einen derben, hohen Bergstiefel zuschnürt. Und daneben steht, nur im Halbprofil zu sehen, ein junger Mann, der über das Mädel hinweg nach den Bergen guckt, die gleich dahinter aufsteigen. Er ist auch in Trachtenzeug gekleidet, in kurzer Hose und Janker, aber sein Gesicht ist kein Jungengesicht mehr, sondern ernst und ruhig — wie die Berge sind. „Das sind meine Eltern“, sagte dann Reni immer, wenn die fremden Mädel bewundernd davor standen, und jedesmal fühlte sie, wie ein glücklicher Stolz in ihr aufstieg. Die andern hatten Freundinnen und Geschwister, aber solch großartige und wunderschöne Eltern hatte bestimmt keins von ihnen.
Alle Erholungskinder beneideten Reni stets, daß sie hierbleiben durfte, für immer. Sie fanden das wundervoll und begeisternd — dann konnte sie doch immerfort am Rundlauf turnen und an den so sehr begehrten Ringen schaukeln — und im Schlafsaal ringsum in allen Betten schlafen, wenn sie allein war — sie nickte und lachte. Gerade jetzt war so eine wilde und lustige Liselotte da, die ihr tausenderlei vorschlug, was sie allein hier treiben würde — so als reichten die sechs Wochen, die sie hier wäre, nicht aus.
„Nein, aber nun müssen wir wieder rüber, die Tante Thea wartet sicher schon“, sagte Reni endlich, „wir haben doch heute nachmittag noch mal freiwilliges Turnen. Und hinterher spielen wir noch ein bißchen Anschlagverstecken im Dustern, wollen wir? An der Henriette ist Anschlag, und ins Haus laufen gibt’s nicht ...“
„O ja, o ja!“ riefen die andern und liefen hinter ihr her. Am Abend saß sie dann allein in ihrem Stübchen und schrieb einen Bericht an den Onkel Doktor. Er mußte doch alles wissen. Dann fiel sie todmüde ins Bett.
Es zeigte sich, daß der Onkel Doktor, obwohl er doch beileibe nicht immer da war, doch die Seele des Kinderheims darstellte. Jetzt, wo er verreist war, fehlte er überall. Er hatte natürlich einen Vertreter da, aber der war jung und kannte so einen Betrieb überhaupt nicht, er wurde nur zu Krankheitsfällen gerufen. Und Tante Mumme ging es im Augenblick gar nicht gut, sie war durch die Hitze matt und viel nervöser als sonst. Fast jeden Tag passierte etwas Unvorhergesehenes.
Vielleicht lag es auch an den Kindern. Es waren dieses Mal besonders wilde und unbändige Exemplare, die zwar gut zusammenpaßten, aber doch mehr Unfug anstellten, als so leicht wieder gutzumachen war. Die Allerwildeste und Allerlustigste war wohl Liselotte, und gerade sie hatte sich mit Reni sehr zusammengetan.
An einem krachheißen Sonnabend erbarmte sich die Tante Thea, die sah, daß Tante Mumme ein Aufatmen nötig hatte, mitsamt einer andern jungen Helferin und schlug vor, mit allen Kindern einen Ausflug in die Berge zu machen. In die Blaubeeren — da konnte Tante Mumme sich erholen und Kraft sammeln für den Sonntag.
Die Kinder waren einverstanden, und Tante Mumme versprach ihnen bei ihrer Rückkehr eine große Menge rote Grütze mit Vanillesoße. Es wurde also gepackt, Brote mußten gestrichen und eingewickelt werden, und Reni überwachte wie immer deren Ausgabe und steckte für Liselotte und sich selbst vorsorglich noch zwei zusätzliche Päckchen ein. Schließlich ging es auch wirklich los. In den Bergen war es durchaus erträglich, denn die Bäume hielten die Luft kühl, und Tante Thea wußte herrliche Blaubeerflecke. Sie war ja hier aufgewachsen und kannte das Gebirge wie ihre Tasche.
Es ging alles glatt wie immer, wenn die junge Turnlehrerin das Kommando hatte. Sie ließ die Kinder sich erst einmal richtig satt tollen, dann jagte sie diese in die Blaubeeren, und gegen Abend sammelte sie alle um sich und erzählte ihnen, während sie ihre Brote aßen, eine lange Geschichte. Das war fast das Allerschönste.
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