„Wir müssen schnell machen, Mutter sagte extra ...“ meinte sie und versuchte, Jule zu einem gelinden Trab zu bewegen. Aber die Jule machte nicht mit. Sie ging Schritt, soviel sie auch mit dem Zügel auf ihr dickes Hinterteil klatschten. Eine Peitsche hatten sie nicht mit und hätten sie auch nicht benutzt. Sie hatten eben vorhin zuviel Zeit vertrödelt, und nun kamen sie sicher zu spät.
„Zu Fuß wären wir schnell zu Haus“, sagte Erika, „wenn man dort drüben durch den Bach geht und quer über die große Wiese — hier macht der Weg einen großen Bogen und wir müssen dann noch durchs ganze Dorf. Dortherum kämen wir sofort ins Gut hinein!“
„Da fahren wir eben so, wenn dort eine Furt ist“, sagte Reni und bog sogleich in den Seitenweg ein.
„Wenn die Jule nur durchgeht“, meinte Erika bedenklich, aber Reni hatte keine Sorge. Warum denn nicht!
Es stellte sich jedoch heraus, daß Erika doch besser Bescheid wußte, wenigstens manchmal. Kaum war die Jule bis zu den Fesseln im Bach, als sie stehen blieb, es schien ihr darin sehr zu behagen. Das kühle Wasser an den heißen, müden Füßen — mochten die beiden Mädel da hinten Hü! und Hott! rufen, soviel sie wollten.
Sie riefen ausgiebig. Dann sprang Reni vom Wagen und watete vor, faßte die Jule am Zaum. „Los, du alte faule Schatulle!“ schimpfte sie, aber es war ein Stück Arbeit, das große schwere Pferd zum Anziehen zu bringen. Und mehr als ein Anziehen wurde es auch nicht, der Wagen stand ja im Bach und die Räder waren bereits vom Sand überspült, so daß es sicher schwer ging, den Wagen zu bewegen. Mit jeder Minute schwerer ...
Reni zog, schrie und schimpfte. Nach einer Weile kam auch Erika dazu, aber es war nichts zu machen. Der Wagen versandete immer weiter, und die Jule stand wie ein Block. Dabei wurde es immer später.
Schließlich wurde ihnen klar, daß sie allein, ohne Hilfe, hier nichts ausrichten würden. Also los, einer mußte sich entschließen, einen Erwachsenen zu holen.
„Willst du laufen oder soll ich?“ fragte Reni. Erika sah so bedenklich drein, daß Reni gleich hinzufüge: „Bleib mal, ich geh schon, ich hab’s ja schließlich auch angezettelt.“
Sie rannte los. Kaum war sie in den Gutshof gekommen, da sah sie schon Frau Niethammer stehen, die nach der andern, der Dorfseite zu, ausspähte, bestimmt nach ihnen.
Sie huschte ungesehen von ihr ins Haus, suchte die Mutter. Zum Glück war sie in ihrem Zimmer.
„Ihr dummen Mädel!“ schalt sie erschrocken. „Wenn das Frau Niethammer erfährt! Dann läßt sie euch doch nie mehr allein fort. Na, wollen mal sehen, ob wir ihr den Schreck ersparen können.“
Es gelang ihnen tatsächlich, ein zweites, angeschirrtes Pferd abzufangen, das gerade von draußen kam. Mit ihm trabten sie zur Furt. Reni war schon wieder ganz getröstet, seit Mutter sich ihrer angenommen hatte, und genoß den kurzen Ritt. Mutter machte eins, zwei, drei den Retter. Sie spannte das Pferd vor die Jule, Frau Jahnecke nahm es am Zaum, und mit Holla Hopp! ruckte der Wagen an. Gott sei Dank, er ruckte nicht nur, sondern kam ganz heraus. Und nun zog ihn die Jule brav allein nach Hause.
Sie hatten das ganz große und unverdiente Glück, in den Hof zu kommen, ohne daß jemand sie sah. Frau Niethammer war inzwischen in der Unruhe ihres Herzens die Dorfstraße ein Stück hinuntergegangen. Kaum hatten die Mädel sich gewaschen und die verwilderten Haare glatt gebürstet, da tönte der Gong: halb eins. Frau Niethammer kam, sichtlich erregt und besorgt, ins Eßzimmer — da standen ja die Mädel!
„Wo kommt ihr denn her?“
„Wir sind gleich über die Wiesen gefahren“, sagte Reni rasch, und Erika murmelte:
„Weil wir so lange warten mußten in der Mühle!“
„Ja, seid ihr denn glatt durch den Bach gekommen?“ fragte Herr Niethammer erstaunt. Reni wurde feuerrot, und ihre Mutter sagte schnell: „Das Wasser ist nicht hoch, jetzt, bei der Hitze!“
Es war ihr gar nicht recht, daß sie den Kindern so beisprang, aber im Augenblick ging es nicht anders. Nach Tisch nahm sie die beiden ins Gebet. „Daß mir sowas nie wieder vorkommt!“
Erika nahm ihre Ermahnungen sichtlich ernst, Reni dagegen schien wenig beeindruckt. Es war ja nichts passiert ... Am Nachmittag war sie bereits wieder auf der Koppel: Fohlenrennen. Erika saß am Rand und mochte nicht mitmachen. Sie hatte Bauchweh von den vielen Äpfeln, die sie gegessen hatte.
Reni hatte nie Bauchweh. Sie glaubte auch Erika nicht ganz, aber das war unrecht: Erika hatte wirklich Bauchweh und legte sich gegen Abend hin. Am andern Tag mußte sie im Bett bleiben und bekam Haferflocken, denn sie hatte einen verdorbenen Magen.
Reni war nicht so herzlos, daß ihr das nicht leid tat. Sie saß bei Erika am Bett und bewunderte, da sie ja nun doch nicht hinauskonnten, die dreizehn Puppen, die Erika hatte. Sie waren wirklich hübsch. Sie setzte sie alle in Reih und Glied aufs Fensterbrett, dann aber wußte sie nichts mehr mit ihnen anzufangen.
„Ich muß überhaupt noch einen Brief schreiben“, sagte sie plötzlich. „Hast du Briefpapier?“
Ja, Erika hatte welches, hellblaues und rosa mit kleinen Blumenbildern und ihrem Monogramm, E. N., oben in der Ecke.
„Ob man das nicht ändern kann?“ fragte Reni. Aber ihre eigenen Anfangsbuchstaben waren zu verschieden von denen Erikas. Schließlich meinte sie, man könnte es dem Onkel Doktor ja erklären, warum das oben auf dem Briefbogen stünde.
„Schreibst du an den Doktor?“ fragte Erika. Sie hatte gedacht, Reni würde an irgend eine Freundin schreiben wollen.
„Ja, er muß doch wissen, wie es mir geht. Schreib du ihm doch auch“, sagte Reni eifrig und brachte der Freundin eine Unterlage, einen Bogen und einen Bleistift. „Der genügt, weil du doch im Bett schreibst, ich nehm’ natürlich Tinte. Hoffentlich mach’ ich keinen Klecks.“
Sie machte aber doch einen. Weil er aber erst passierte, als der Brief schon vier Seiten lang war, konnte niemand erwarten, daß sie deshalb noch einmal von vorn anfing. Da vom Radieren Kleckse noch nie wirklich weggegangen sind, ließ sie ihn stehen, lachte dann und malte ihm einen Kopf, zwei Arme und zwei Beine an. Nun war er ein kleiner dicker Mann. Inzwischen war auch Erika fertig geworden, und Reni steckte beide Briefe in einen Umschlag, adressierte und klebte ihn zu. „Und jetzt spielen wir, Mensch, ärgere dich nicht‘!“
Am andern Tag war Erika wieder gesund. Aber nun regnete es. Regen auf dem Land ist für Kinder schrecklich langweilig. Reni dachte mit Wehmut ans geliebte Heim — da gab es an solchen Tagen Kasperletheater oder Märchennachmittag oder sogar mal Kino. Hier gab es all so etwas nicht. Erika sah mit Schrecken, daß Reni sich langweilte — „Wir gehen in die Bodenkammer“, schlug sie vor.
Das war eine gute Idee. Dort oben standen alte, dunkle Regale mit grünen, zerschlissenen Vorhängen davor, und darin konnte man die schönsten Entdeckungsreisen machen. Alte Bücher, verstaubte Spielsachen, Puppenstuben, Schachfiguren ohne Brett, ein zoologischer Garten mit Papiermaché-Heren—an Langeweile war nicht mehr zu denken. Zum Schluß aber fanden sie das Schönste: eine Truhe mit Maskenkostümen. Nun konnten sie sich verkleiden, wunderbar!
Reni schrie und lachte vor Vergnügen, während sie eins nach dem andern hervorkramte. Bunte Schleier, knisternd steife Silbermützen, ein Pierrotkostüm, ein Schornsteinfegeranzug und vielerlei Larven. Reni kroch in alle Jungensachen, sie verkleidete sich so gern als Junge, während Erika sich als Königin der Nacht drapierte — in einem dunkelblauen Seidenkleid mit langer Schleppe und einem Halbmond in den offenen Haaren sah sie wirklich so aus, wenn sie durch den Bodenraum rauschte, mit hocherhobenem Haupt und majestätisch wie eine geborene Durchlaucht.
Auf dem Boden schlief auch die Mamsell, sie hatte das Giebelzimmer nach Westen. Es war nicht verschlossen, Erika huschte hinein.
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