„Wie hübsch das hier ist!“ sagte Reni verwundert. Sie konnten die Mamsell nicht sehr gut leiden, weil sie immer schimpfte. Reni und Erika behaupteten, sie wäre geizig ... das sagen wohl alle Gutskinder von ihren Mamsellen. Aber man kann ja nicht erwarten, daß diese braven Wirtschafterinnen einem dauernd pausenlos Äpfel, Kuchen oder ähnliches zustecken.
„Wollen wir ihr nicht ein Gespenst aufbauen?“ schlug Reni vor, und Erika, die sich erst neulich über die Mamsell geärgert hatte, als sie für die Puppen kochen wollte und kein Puddingpulver herausbetteln konnte, war sofort einverstanden. Sie liefen hinüber und suchten aus der Truhe einen dunklen Anzug heraus, hingen ihn über einen Besen und stopften ihn mit alten Tüchern aus. Als Kopf nahmen sie ein Handtuch, das sie zusammenwickelten, steckten die scheußlichste Larve, die sich finden ließ, davor und stülpten obendrauf einen alten Hut. So kam der Buhmann in die Stubenecke.
„Hoffentlich kommt sie erst abends rauf, damit sie recht erschrickt”, sagte Reni, „am Tage sieht man’s gleich, daß es bloß altes Zeug ist!“
Sie stopften das übrige in die Truhe zurück, wie es gerade kam, und liefen hinunter, um sich Vesperschnitten zu holen. Der Regen hatte übrigens aufgehört, und Herr Niethammer fragte, ob sie mit in die Schäferei fahren wollten. Natürlich wollten sie. Darüber vergaßen sie ihr Gespenst vollständig.
Es wurde ihnen aber ins Gedächtnis zurückgerufen, und zwar sehr nachdrücklich. Schon eine ganze Weile nach dem Abendbrot — Mutter hatte sie eben ins Badezimmer getrieben und ein bißchen gescholten, sie sollten sich doch endlich beeilen — ertönte ein lautes Geschrei, und im Flur gab es ein Hin und Her und Rufen und Kreischen. Die Mamsell stand, in die Schürze heulend und an allen Gliedern zitternd im Treppenwinkel und verschwor, nie wieder auf den Boden zu gehen; in ihrem Zimmer stünde ein Kerl. Als die andern ihr das auszureden versuchten, wurde sie ganz giftig. Sie hätte ihn genau gesehen und auch erkannt, ja wohl! Ganz genau, niemand könnte ihr das ausreden! Und keine zehn Pferde brächten sie jemals wieder auf den Boden hinauf ...
Es gab ein langes Hin- und Hersprechen, und Reni und Erika hörten hinter der angelehnten Badezimmertür zu, aber sie lachten gar nicht mehr über den durchschlagenden Erfolg ihrer herrlichen Idee. Im Gegenteil ... Schließlich gingen Herr Niethammer und ein Kutscher hinauf, die Mamsell blieb ihren vielfachen Eiden treu und unten. Nach fünf Minuten war alles aufgeklärt.
Herr Niethammer war sehr ärgerlich, mehr eigentlich über Mamsells Anstellerei als über die Dummheit der Mädel, aber er mußte natürlich auf sie als die Urheber des Theaters schelten. Das tat er denn auch, donnerte, daß sie ganz klein und häßlich dastanden und sich in ein Mauseloch wünschten, und dann brummte er zu Mamsell:
„So, rauf jetzt, so ein Kerl tut nichts!“
Leider aber war die Mamsell eine von denen, die Haare auf den Zähnen haben.
„So, rauf jetzt — kommt gar nicht in Frage! Entweder ich krieg’ jetzt endlich ein Zimmer in menschlichen Gefilden oder ich gehe zum Ersten, so wahr ich hier stehe! Immer hab’ ich schon gesagt ...“
Ja, sie hatte schon seit je über ihre Unterbringung unter dem Dach gemault und räsoniert. Reni wußte das nicht, sie glaubte, sie allein wäre nun schuld, daß die Mamsell schließlich, um Ruhe im Haus zu bekommen, von Frau Niethammer im Fremdenzimmer einquartiert wurde. Das hatte die gerissene Dicke längst vorgehabt, und nun ergriff sie die Gelegenheit mit Wonne. Aber für Frau Niethammer war es ärgerlich und für Erika und sie schrecklich peinlich ...
Sehr gedrückt kroch Reni an diesem Abend ins Bett. Mutter hatte sehr ernsthaft gescholten — erst die Geschichte mit dem Wagen im Bach, dann Erikas verdorbener Magen —, daß Reni daran nicht Schuld war, sah Mutter anscheinend nicht ein, Mütter sind so. Wenn sie schelten, schelten sie in Bausch und Bogen ... Und nun diese Gespensteraffäre.
„Du mußt doch bedenken, daß es sehr nett ist von Niethammers, wenn du hier sein darfst“, sagte sie vorwurfsvoll. „Wenn du drei Jahre alt wärst, könntest du das nicht verstehen. Aber so! Und Leute erschrecken soll man nie, das ist genau wie bei Pferden. Ein Schreck kann fürs Leben schaden ...“
Gottlob, daß sie bei den Pferden angelangt ist, dachte Reni ein klein bißchen erleichtert. Wenn Mutter auf dieses Thema kam, wurde sie sanfter, das wußte sie aus Erfahrung, schon weil man eben mit Pferden immer sanft sein muß. Trotzdem mußte sich Reni noch eine ganze Weile anhören, wie ein Schreck auf dieses oder jenes Pferd schädlich gewirkt hatte. Sie schlief schließlich darüber ein, ohne Absicht, sie war sehr müde ... Mutter merkte es erst viel später. Sie seufzte. Es war nicht so leicht, eine kleine Tochter bei sich und doch nicht genug Zeit für sie zu haben.
Neues vom alten Doktor Schon wieder geht etwas schief
In der Frühstückspause — Fräulein Sonneson war von ihren Ferien zurückgekehrt und unterrichtete die Mädel jetzt wieder — lief Reni ins Büro hinunter. „Sicher ist ein Brief für mich da“, hatte sie Erika zugerufen. Gleich darauf erschien sie wieder, einen weißen Umschlag schwenkend. „Ich hab’s ja gewußt! Hurra!“
Erst aber suchte sie sich doch noch mit genießerischer Ruhe eins von den Broten vom Teller, der immer, wunderbar in seiner verschwenderischen Auswahl, den Studierenden aus der Küche heraufgeschickt wurde. Katri, das Küchenmädel, machte ihn täglich fertig, und bei ihr hatten die Mädel „Stand“. Außer den Brotschnitten bekamen sie auch noch herrlich kalte Milch oder Buttermilch, manchmal auch, wenn es kühler war, eine Tasse Fleischbrühe. Fräulein Sonneson ging mit ihrem Frühstück meist auf den Balkon hinaus, während die Mädel im Lernzimmer blieben. Das Lernzimmer war überhaupt so gemütlich, mit dem großen Tisch und der niedrigen Decke und den vielen Bücherregalen ringsum.
Reni schlitzte den Brief mit dem Löffelstiel auf, gab Erika einen Zettel, der für sie eingelegt war — der Onkel Doktor dankte ihr für den schönen Brief, den sie unbekannterweise geschrieben hatte — und hockte sich dann mit dem ihren ans Fenster. Sie las, während sie aß, bald aber vergaß sie, zu beißen und zu kauen, Erika sah es deutlich. Sie wurde unruhig, mochte aber nicht fragen. Was hatte Reni denn? Reni las:
„Liebe Reni! Dein liebevoller Brief mit dem zweifellos vollendet gelungenen Portrait meiner schönen Figur auf der letzten Seite —“ Reni wußte erst gar nicht, was er meinte, bis sie sich an ihren verschönten Klecks erinnerte und lachen mußte — „hat mein Herz erwärmt. Trotzdem mußte ich ein bißchen weinen. Nicht in Wirklichkeit — sei beruhigt — aber im Innern. Ich erfuhr es schon durch Tante Mumme, daß der Vogel ausgeflogen sei. Treulose Du! Wer soll mir denn von nun an die Sorgenfalten von der Stirn streicheln, wie Du das bisher mit Deiner schlohengelweißen Hand so erfolgreich besorgtest? Hast Du denn gar nicht an Dein vornehmstes Amt gedacht???
Ich werde also von jetzt an rettungs- und hemmungslos verrunzeln. Nun, sei es drum, wenn Du nur glücklich bist! So sagt jeder, der seinen Nächsten mehr liebt als sich selbst. Bist Du glücklich? Wenn nicht, werde ich Dir postwendend Deinen besten Teil versohlen. Ein Kind, das endlich bei seiner Mutter gelandet ist, hat glücklich zu sein, verstanden?
Liebe kleine Reni, in Deinem Leben hat sich so ganz plötzlich viel geändert, in meinem tut es das auch. Ich wollte Dir das alles mündlich erklären, alles erzählen, wenn ich wiederkomme und wir am Kamin sitzen, und nun bist Du fort, so muß ich es also schreiben. Sicher weißt Du nicht, daß ich, ehe ich zu Tante Mumme ins Haus zog, verheiratet war, wir haben nie davon gesprochen. Meine Frau war sehr anders als ich und langweilte sich oft, weil ich immer und immer zu tun hatte und fortgeholt wurde. Da haben wir uns dann getrennt, schon vor vielen Jahren. Jetzt ist sie gestorben. Ich gehöre ja nun schon so lange dem Heim und Euch, Ihr kleinen, frechen, ungezogenen und geliebten Kerle, daß ich wohl traurig, aber nicht untröstlich bin wie vielleicht ein anderer Mann, dem die Frau genommen wird. Es ist etwas anderes, sehr Wichtiges, was sich nun in meinem Leben ändert: wir haben nämlich einen Sohn, einen großen Jungen, der bisher bei der Mutter war und nun zu mir kommen wird. Er ist schon fünfzehn Jahre alt, der Christian, und mir doch noch ganz fremd. Den will ich nun ins Heim nehmen, und da habe ich an sich mit Dir gerechnet und mit Deinem Beistand, kleine, liebe Reni, daß Du ihn liebgewinnen und ihm eine recht gute, tapfere kleine Freundin werden würdest.
Читать дальше