So furchtbar war das, würde ich der GEZ-Frau sagen, dass ich richtiggehend traumatisiert war. Können Sie das verstehen? Können Sie sich vorstellen, was mit der Psyche eines gesunden Erwachsenen geschieht, wenn er gezwungen ist, vierzig Ostdeutschen mit Tirolerhüten dabei zuzuschauen, wie sie versuchen, den Wilhelm-Tell-Stoff »tänzerisch zu interpretieren«? Als politische Kunst? Auf Kosten der Gebührenzahler?
Wie ich auch, seit ich bei einem Empfang in München einmal dem Friedrich Kardinal Wetter den nicht mehr ganz sauberen Ring küssen musste, beschlossen habe, mich radikal von der katholischen Kirche abzuwenden. Wobei ich das meiner politischen Ambitionen wegen nicht an die große Glocke hänge. Ist eine Privatangelegenheit. Außerdem finde ich Krippenspiele, Martinsumzüge, Kindermetten und so weiter eigentlich ganz nett, auf jeden Fall unterhaltsam.
Es war aber weder die GEZ an meiner Tür – die Eintreiber sind sonntags sicher nicht unterwegs – noch der Kardinal Wetter, der mir auch in Alpträumen schon seinen fetten Ring hingehalten hat, sondern eine Frau, an die ich mich jetzt vage zu erinnern begann. Es war die alte Grundschullehrerin meiner Schwester.
Hey, sagte sie.
Hey, sagte ich.
Kann ich reinkommen?
Aber klar.
Sie gab mir ihre Jacke. Sie duzte mich. Aha, dachte ich, wir duzen uns also. Karla war in der Stadt gewesen letztes Jahr, sie hatte sich mit der Lehrerin in einem Café verabredet. Sie haben Kontakt gehalten in all den Jahren, Karla ist in solchen Dingen sehr gut, sehr gewissenhaft. Ich bin dazugestoßen, wie man so sagt, und habe nach dem dritten Glas Riesling vorgeschlagen, sie solle sich doch mal melden. Einfach so. Und habe ihr meine Karte in die Hand gedrückt. Ich fand sie interessant. Sie hat die ganze Zeit von Mengenlehre geredet, und ich habe auch immer gemeint, dass Mengenlehre ein absoluter Glücksfall gewesen ist in meiner Kindheit. Ich habe das meiste, was ich später gelernt habe, bis tief ins Jurastudium hinein, mit Hilfe der Mengenlehre verstanden. Ich habe jede Aufgabe gelöst, jede Prüfung bestanden mit Hilfe ein paar einfacher Regeln, die ich in der Grundschule gelernt habe. Alles andere war ableitbar, alles andere musste man nicht wirklich lernen, man konnte es sich denken.
Jetzt stand diese Frau in meiner Wohnung, und ich hatte wirklich anderes zu tun. Mein Bildschirm war hellrosa und orange überflutet, das neu.de-Logo prangte in achtundvierziger Schriftgröße darauf, bewegte sich, kleine, anthropomorphe Herzchen schaukelten und blinkten, es war wirklich nicht zu übersehen, was ich da trieb. Ich hatte mich ja gerade hingesetzt, um mein Profil festzulegen und war nur unterbrochen worden wegen des Haars in der Tastatur, und nun stand diese Frau da mit ihrer Mengenlehre, und ich wusste einfach nicht mehr, wie sie hieß.
Ich habe also meinen Laptop zugeklappt, im Vorbeigehen, bin in die Küche, um Teewasser aufzusetzen und habe eine SMS geschrieben, Karla, dringend!, schnell!, wie heißt deine Grundschullehrerin???
Und, was machst du in der Stadt?, habe ich gefragt.
Ich wohne doch hier.
Ach ja, habe ich gesagt. Stimmt, hast du ja erzählt.
Das Handy piepste. Tschuldigung, sagte ich, eine Freundin in Not . . .
Karla schrieb Höffner, nichts als Höffner, ich musste also zurück in die Küche, sagte,
Der Tee,
ging in die Küche und tippte wie wild,
Der Vorname! Schnell!,
und dann war ich wieder bei der Grundschullehrerin.
Bist du eigentlich mit dem Kardinal verwandt?, wollte ich wissen.
Mit welchem Kardinal?
Gab es nicht mal einen Kardinal Höffner? In Köln?
Ja, kann sein.
Mit dem bist du nicht verwandt?
Nicht dass ich wüsste, Jonas.
Jonas! Sie kannte meinen Namen. Natürlich kannte sie meinen Namen, sie hatte mich ja aufgesucht, hatte mein Kärtchen in die Hand genommen und bestimmt mit Karla über mich geredet, sie wusste wahrscheinlich alles über mich, wusste, wo ich arbeite und wie alt ich bin und was ich mache, wusste jetzt sogar, dass ich im Internet mit Frauen verkehre, sozusagen, im Internet!, der Einserjurist, der Politiker, der semiprominente Bruder.
VERA –
Sie hieß Vera, was für eine Erlösung, ich goss den Tee auf und rief,
Hoffentlich magst du Earl Grey, Vera!
Klar!, rief Vera.
Was für ein Glück, dass Karla immer ihr Handy eingeschaltet hat. Weil sie in ihrem leeren, schlecht beheizten Laden sitzt und auf Kunden wartet, vergeblich. Aber nein, es war ja Sonntag. Jetzt, endlich, hatte ich diese Situation im Griff, jetzt war es gut, und ich freute mich richtig, denn Vera war interessant, aufgeschlossen, lustig, genau der richtige Gast für einen langen, zäh dahinfließenden Sonntagnachmittag. Und das Adrenalin, das mir wegen der GEZ ins Blut geschossen war, war längst abgebaut. Die Dame, die da an meinem Esstisch saß, schien einfach sehr nett. Ich war mir sicher, dass ich mich stundenlang mit ihr würde unterhalten können. Ich goss den Tee ein und sagte, bitte, erklär das noch einmal mit den Merkmalen. Wenn sich zwei Mengen überschneiden, dann gibt es ‒
Eine Schnittmenge.
Genau . . .
Und in dieser Schnittmenge tummeln sich die A-Elemente und die B-Elemente,
Nein, nein, es sind die A-B-Elemente,
Die beide Eigenschaften in sich vereinen . . .
Genau.
Also vollkommen homogen, diese Schnittmenge,
Ja, zumindest was diese beiden Merkmale angeht.
Wenn also, sagen wir mal, die eine Menge aus Männern besteht und die andere aus Frauen?
Dann findest du in der Schnittmenge die Zwitter.
Nicht Männer und Frauen, die sich am selben Ort tummeln? Wie bei einem großen Abschlussball?
Nein, leider nicht, nur die Zwitter und die Transen.
Puuuh.
Wir haben so viel Earl Grey getrunken, dass ich ganz zittrig war. Aber es machte Spaß. Wirklich. Ich wusste irgendwann nach der vierten Tasse wieder, warum ich sie so großherzig eingeladen hatte, obwohl ich mir unter melden (Meld dich mal . . . ) eigentlich eher eine Mail oder eine SMS vorgestellt hatte. Aber so sind sie, die alten Leute. Auf jeden Fall haben wir uns ausgezeichnet unterhalten. Über Gott und die Welt und über Politik. Eine richtige Lehrerin halt.
Ich brachte Vera noch zur Haltestelle. Ich könnte deine Mutter sein, sagte sie. Ich antwortete nicht darauf. Aber auf dem Rückweg ging mir der Satz eine Weile durch den Kopf. Natürlich könnte sie meine Mutter sein. Ist sie aber nicht. Warum also sagt sie so etwas?
Im Nachtkauf besorgte ich mir ein Schlemmerfilet à la Bordelaise und den Bahlsen-Marmorkuchen fürs Frühstück.
Wenn sie wüsste, dass ich mich für Frauen interessiere, deren Großmutter sie sein könnte, dachte ich.
Ich legte das Fischfilet ins Tiefkühlfach, ging ins Bad und zog die Pinzette aus dem kleinen Lederetui.
Die Mitgliedschaft in der Vermittlung ist erst einmal auf einen Monat begrenzt, natürlich verlängerbar, und kostet neunzehn Euro neunzig. Ich werde mich bemühen, die Partnersuche beziehungsweise das, was ich mir vorgenommen habe, innerhalb eines Monats umzusetzen. Heute ist der 27. November. Vor Weihnachten muss ich es geschafft haben. Allein schon, weil ich bereits nach achtundvierzig Stunden merke, dass mich das wirklich sehr ablenkt, sehr in Beschlag nimmt.
Ich, elian. . . ich möchte jemanden küssen in der Silvesternacht. Das ist meine Zielsetzung. Das ist doch kein unrealistisches Ziel. Eine Frau, eine junge Frau mit Witz, Intelligenz. Sie sollte schlank sein, habe ich angekreuzt, schlank und sportlich, nicht größer als eins achtzig, sie sollte aufgeräumt wirken, selbstbewusst. Ist das zu schaffen? Ja. Auch wenn ich Silvester zu einer sehr schwulen Party eingeladen bin. Bei Hartmut in Essen.
Mein Vater hat seine jetzige Frau auch per Annonce, damals noch in der Zeitung, kennen gelernt. Nachdem meine Mutter ihn verlassen hatte. Das erzählt er natürlich nicht jedem. Die offizielle Version lautet, dass sie sich in einem Auktionshaus begegnet sind, was sich, wie ich finde, nach Kleinbürgerfantasie anhört, ein bisschen nach Kleinbürgerporno. Aber verstehen kann ich es, dass sie diese Geschichte, eine Geschichte, erfunden haben.
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