Der Kapitän lächelte. „Das stimmt“, sagte er; „auf dem Dyrehavsbakken geht es immer lustig her. — Aber nun schau auch einmal dort hinüber zu dem grossen Wasser! Das ist der Öresund. Er ist einer der schönsten und meist befahrenen Wasserwege der Erde.“
Das konnte man auch jetzt soeben sehen. Denn überall auf dem Sund herrschte das regste Leben. Ich war nicht imstande, die vielen Dampfer und Segelschiffe zu zählen, die dort im hellen Sonnenschein nach allen Seiten hin auf dem schimmernden Wasser sich bewegten.
Dazu kamen noch die grossen grünen Laubwälder am Strande entlang, welche diese herrliche Wasserstrasse so lieblich begrenzen.
„Herr Kapitän!“ rief ich aus, „diese schöne Gegend habe ich schon gestern kennengelernt, als wir durch den Sund von Kronborg nach Kopenhagen segelten. Dort drüben, im Norden, liegt Helsingör und Hölsingborg. Und dann kommen auf der dänischen Seite die Städte Skodsborg, Klampenborg und Charlottenlund mit dem königlichen Schloss. Und dort mitten im Sund liegt die Insel Hven, wo der dänische Astronom Tycho Brahe in seinem grossen Schloss Uranienborg gewohnt hat.“
„Ganz richtig, Nonni. Wer hat dir denn alle diese Namen gesagt?“
„Owe und der Steuermann, Herr Kapitän. Ich konnte sie bald alle auswendig. Diese Orte sind so schön, dass ich sie nie mehr vergessen werde.“
Entzückt von der Pracht und Schönheit der Natur, die sich hier weithin wie ein gewaltiges Gemälde in den glänzendsten Farben entfaltete, liess ich langsam meinen Blick über die unendlichen Waldgründe von Charlottenlund, Klampenborg und Skodsborg schweifen, und über die spiegelglatten, blinkenden Fluten des Sundes, in welche die ganze Lieblichkeit des azurblauen Himmels sich hineingesenkt zu haben schien.
Als ich dann wieder die schwedische Küste jenseits des Sundes sah, da bekam ich plötzlich einen ganz neuen Einfall:
„Herr Kapitän!“ fragte ich eifrig, „wissen Sie, woran ich jetzt denke?“
„Nein, das weiss ich nicht, Nonni.“
„... Ich möchte einmal in einem kleinen Kahn über den Sund nach Schweden hinüberfahren!“
Herr Foss lachte laut auf. „Das ist aber ein merkwürdiger Einfall von dir“, sagte er. „Diese Fahrt wirst du so schnell nicht machen, mein Lieber!“
„Glauben Sie, Herr Kapitän? — Das würde mir aber sehr leid tun. Ich möchte so gern einmal nach Schweden kommen.“
„Ja, aber doch nicht im offenen Kahn, Nonni! Was denkst du nur?“
„O, ich bin aber sehr gut ans Meer gewöhnt, Herr Kapitän!“
„So? Was hast du denn bisher auf dem Meere geleistet, kleiner Freund?“
„Ich habe zu Hause meinen eigenen Kahn gehabt und bin oft im Eyjafjörður herum gerudert und gesegelt.“
„Aber so weit wie von hier bis nach Schweden bist du sicher niemals auf deinem Kahn gefahren.“
„Doch, Herr Kapitän, einmal.“
„Wirklich? — Weisst du aber auch, wie weit es von hier bis zur schwedischen Küste ist?“
„Nicht genau, Herr Kapitän.“
„Gut, dann will ich es dir sagen: es sind mehr als dreissig Kilometer.“
„Dann bin ich aber mit meinem Bruder Manni schon weiter auf dem Meere draussen gewesen!“
Herr Foss schaute mich fragend an. — „Und das soll ich dir glauben?“ sagte er.
„Ja, Herr Kapitän, wir sind einmal ganz allein von Akureyri bis zur Mündung des Eyjafjörður gefahren!“
„Von Akureyri bis zur Mündung des Eyjafjörður!? — Das ist nicht möglich, Nonni! Das wären ja sechzig Kilometer! doppelt so weit wie von hier nach Schweden!“
„Ja, Herr Kapitän; der Eyjafjörður ist sechzig Kilometer lang.“
„Aber Nonni, so etwas darfst du doch mir nicht erzählen! Ich bin Seemann und kann über solche Dinge urteilen.“
„Wir sind aber wirklich bis zur Mündung des Eyjafjörður gekommen, Herr Kapitän.“
„Nun, dann bin ich aber doch gespannt, wie das zuging, mein Freund. Erzähle mir mal die näheren Umstände.“
Diese Frage brachte mich ein wenig in Verlegenheit. Die Sache war nämlich die: Mein kleiner Bruder Manni und ich kamen bei jener Kahnfahrt in die grösste Lebensgefahr. Wir verirrten uns im Nebel, wurden von einem reissenden Strom ins offene Meer hinausgetrieben und dann schliesslich von dem französischen Kriegsschiff „La Pandore“ gerettet 2.
Es war mir natürlich nicht angenehm, das alles jetzt dem Kapitän zu erzählen. Aber da er nach den näheren Umständen fragte, musste ich mit der Wahrheit heraus.
Etwas kleinlaut antwortete ich:
„Ganz leicht ist es nicht gegangen, Herr Kapitän. Es hat eine ganze Nacht gedauert. Wir sind aus dem Golf gegen das offene Meer hinausgetrieben worden. Und es war schrecklich viel Nebel da. Und dann sind wir wieder nach Hause zurückgekehrt auf einem Kriegsschiff ...“
„Ah so! — auf diese Weise!“ antwortete lächelnd Herr Foss. „Ja, jetzt verstehe ich! — Ihr habt Unglück gehabt und seid in Seenot gekommen!“
„Ja, das ist wahr, Herr Kapitän. Damals haben wir etwas Unglück gehabt. Aber das war nur das eine Mal. Hätten wir nicht den reissenden Strom und soviel Nebel gehabt, dann wäre alles gut gegangen.“
„Ja, ja. — Und dann wäret ihr auch nicht so weit hinausgetrieben worden! — Übrigens könntest du hier ebensogut Nebel bekommen wie auf dem Eyjafjörður. Gefährliche Strömungen gibt es auch im Öresund. Und wenn du wieder in Seenot kämest, dann wäre wohl nicht gerade ein Kriegsschiff da, das dich retten könnte. — Also, ich meine, lieber Nonni, du sollst keine so langen Bootfahrten auf dem Meere machen. Halte dich lieber ans trockene Land.“
Ich hätte nun gern dem guten Kapitän versprochen, dass ich keine solchen Bootfahrten unternehmen wolle. Doch ich besann mich. Es schien mir nämlich nicht ratsam zu sein, mich durch ein festes Versprechen zu binden. Ich fürchtete, es nicht halten zu können. Darum antwortete ich ausweichend:
„Auf dem Meere will ich immer vorsichtig sein, Herr Kapitän. Ich werde auch Ihrem Rate folgen und einmal bei Gelegenheit versuchen, einen Ausflug in das Innere der schönen Insel Seeland zu machen.“
„Das wird schon besser sein, kleiner Freund, als über den Sund nach Schweden zu segeln. Doch hüte dich, deiner Reiselust gar zu sehr nachzugeben, es könnte dir sonst einmal wie dem Robinson Crusoe gehen. Du weisst, der wollte auch aufs Meer hinaus, hat aber Schiffbruch gelitten und musste lange ganz allein auf einer unbewohnten Insel leben.“
„Ja, Herr Kapitän, meine Mutter hat mir diese Geschichte erzählt. Aber es scheint mir nicht, dass es dem Robinson Crusoe so schlecht gegangen ist. Ich möchte sehr gern an seiner Stelle gewesen sein.“
Der Kapitän lachte wieder. Er sagte:
„Ja, ja, so sprichst du jetzt in deiner ersten Begeisterung, Nonni; du siehst noch zu viel Neues hier. Später wirst du schon ruhiger werden.“
Herr Foss hatte recht: ich war wie bezaubert von den vielen neuen Eindrücken, die hier von allen Seiten auf mich heranstürmten.
Die grosse herrliche Stadt und der Liebreiz der dänischen Natur, die soeben ganz vom Sonnenschein vergoldet vor uns hingebreitet lag, hatten mich mit einer mächtigen Wanderlust erfüllt. Es zog und lockte mich mit einer fast unwiderstehlichen Gewalt. Ich wollte hinein in diese Märchenwelt, um immer neue Wunder zu erleben.
Schon sah ich mich im Kahn auf den blauen Fluten des lieblichen Sundes nach Schweden hinfahren; da rief Herr Foss mich aus meinem Sinnen und Träumen zurück.
„Nonni“, sagte er, „jetzt ist es aber Zeit, dass wir wieder hinuntergehen, sonst brauchen wir noch den ganzen Tag, bis wir zur Dossering kommen!“
Rasch warf ich noch einen letzten Blick auf die grosse Stadt mit ihrem Häusermeer und ihren prachtvollen Türmen und Palästen, auf den hellglänzenden Öresund und auf die tiefen, geheimnisvollen Buchenwälder im Nordwesten.
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