„Nonni, ich merke, du verstehst mich noch nicht. Komm, wir gehen jetzt auf die andere Seite des Turmes, dann wirst du sehen, dass er sich auch dorthin wieder neigt.“
Wir gingen an dem Turmtor vorbei, etwa zwanzig Schritte weit nach der entgegengesetzten Seite. Unterwegs schaute ich mehrmals in die Höhe, und höchst erstaunt rief ich wieder aus:
„Herr Kapitän, jetzt bewegt sich ja der Turm dort oben! — Der oberste Teil dreht sich! — Er folgt uns immer nach! — Jetzt neigt er sich auch hier vornüber!“
„Gewiss, Nonni; es ist eben, wie ich dir gesagt habe: das alles sieht nur so aus.“
Nun lief ich schnell zurück bis zu der Stelle, wo wir vorher gestanden hatten — und abermals neigte sich der obere Teil des Turmes zu mir hin!
„Herr Kapitän“, rief ich, „jetzt neigt er sich wieder ganz deutlich hierher! Wie ist es dort, wo Sie stehen?“
„Hier neigt er sich ganz deutlich zu mir her!“ sagte Herr Foss.
Also neigte er sich zu gleicher Zeit nach rechts und nach links!
Das war aber doch rein unbegreiflich! Es war, wie wenn der Turm nichts anderes zu tun gehabt hätte, als fortwährend unsern Bewegungen zu folgen, sich nach links und nach rechts zu wenden und auf uns hernieder zu schauen. Aber das merkwürdigste war, dass er sich zu gleicher Zeit nach beiden Seiten neigte.
Erstaunt lief ich wieder zum Kapitän zurück.
Ich sah mir nun den Wunderturm etwas genauer an. Er hatte keine Spitze. Sein oberster Teil war ebenso breit wie der untere. Er war überall rund und hatte überall den gleichen grossen Umfang. Den Abschluss oben bildete eine weite, runde Plattform, als ob der Turm dort querdurch abgesägt worden wäre.
Zuhöchst am Geländer, das am äusseren Rand um die ganze Plattform herumlief, sah ich ab und zu kleine Gestalten, die sich ähnlich wie Fliegen hin und her bewegten. Auf meine Frage, was dies sei, erklärte mir Herr Foss, es seien Leute, die droben herumgingen und sich die schöne Aussicht und die Stadt ansähen.
Diese Menschen sahen in der gewaltigen Höhe wie Puppen und Zwerge aus. Manchmal lehnten sie sich an das Geländer, dann konnte man deutlich ihre Köpfe und Hände und Arme unterscheiden. Aber sie waren viel kleiner als in Wirklichkeit.
Das alles machte diesen Turm für mich zu einem wahren Wunder. Ich konnte ihn gar nicht genug betrachten.
Besonders über seine mächtige Höhe und Breite musste ich mich immer von neuem wundern. Der Kapitän sagte mir darauf:
„So scheint es dir, Nonni, weil du noch nie grosse Bauwerke gesehen hast. Es gibt aber Türme in der Welt, die sind noch viel grösser als dieser. Wenn du einmal nach Frankreich kommst, wirst du noch bedeutend höhere Türme sehen.“ —
Auf die Gebäude in der nächsten Umgebung hatte ich bis jetzt kaum geachtet. Ich wurde erst darauf aufmerksam, als Herr Foss mich fragte:
„Nun, Nonni, hast du dir auch die Kirche zu dem Runden Turm gemerkt?“
„Was für eine Kirche, Herr Kapitän?“
„Die Dreifaltigkeitskirche. Sie steht doch hier neben uns.“
Wahrhaftig, da war eine grosse Kirche, die sich hoch zwischen den Häuserreihen gerade hinter dem Turm erhob.
Ich fragte: „Hat denn der Runde Turm etwas mit dieser Kirche zu tun?“
„Aber selbstverständlich, Nonni! Der Runde Turm ist ein gewöhnlicher Kirchturm. Er ist der Turm der Dreifaltigkeitskirche.“
Das kam mir sehr sonderbar vor. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Turm, auf den man mit Pferd und Wagen hinauffahren konnte, ein Kirchturm sein könne.
„Und weisst du auch, wer den Turm und die Kirche gebaut hat?“ fragte Herr Foss weiter.
„Nein, Herr Kapitän.“
„Dann musst du es dir aber merken, kleiner Freund. — Es war der dänische König Christian IV. Von diesem sind noch viele Prachtbauten hier in Kopenhagen, und überhaupt im ganzen Lande.“
„O, von Christian IV. habe ich schon gelesen, Herr Kapitän! Ich kenne seinen Namen gut! Er war einer der grössten Könige von Dänemark!“
„Ja, das ist er wohl gewesen.“
„Gibt es hier in Kopenhagen noch mehr solcher Türme von ihm, Herr Kapitän?“
„Nein, solche gerade nicht, Nonni; aber andere, die ebenso merkwürdig sind wie der Runde Turm. So zum Beispiel der von der ‚Börse‘, der auch hier in der Nähe ist.“
„O, dann können wir ja gleich hingehen, Herr Kapitän!“
Herr Foss lachte. „Nur Geduld, kleiner Freund! — Weisst du überhaupt, was die Börse ist?“
„Nein, Herr Kapitän, ich habe noch nichts von ihr gehört.“
„Gut, dann will ich es dir sagen. — Die Börse ist ein prächtiges Gebäude am inneren Hafen, dort werden Geldgeschäfte abgemacht.“
„Und der Turm der Börse, Herr Kapitän, ist der auch so gross wie der Runde Turm?“
„Nein, so gross ist er nicht; aber er ist noch viel merkwürdiger. Er besteht aus vier riesig grossen Drachen; die liegen auf dem Dach der Börse; ihre langen Schwänze sind zusammengewunden und türmen sich senkrecht in die Luft hinauf.“
„Das muss aber komisch aussehen, Herr Kapitän, wenn der ganze Turm nur aus diesen zusammengewundenen Drachenschwänzen besteht!“
„Ja, aber es ist sehr schön, Nonni. Die vier Drachen winden und ringeln sich umeinander, wie wenn es lebendige wären. Das Ganze ist aus vergoldetem Kupfer gemacht. Es ist ein berühmtes Kunstwerk.“
„Dann ist es ja wie ein Märchen, Herr Kapitän! Und der König Christian muss ein merkwürdiger König gewesen sein! — Hat er noch andere solche Türme und Häuser gebaut?“
„Ja, noch verschiedene. Aber es würde uns zu viel Zeit nehmen, wenn ich sie dir alle beschreiben wollte. Von einem will ich dir aber noch erzählen. Das ist das Schloss Frederiksborg bei Hilleröd, einige Meilen von Kopenhagen. Mit diesem Schloss ist es so gewesen:
König Christian war damals noch ein kleiner Junge. Eines Tages ist er im Wagen an dem See von Hilleröd vorbeigefahren. Dieser See ist sehr schön. Er ist rings von den prachtvollsten Buchen umgeben. Da liess der junge Prinz seinen Wagen halten. Er hatte eine solche Freude, dass er ausrief: ‚Hier, mitten in diesem Wasser, werde ich mir einst ein Schloss bauen.‘
Man lachte über ihn, und einer sagte: ‚Du hast deine Kinderschuhe noch nicht ausgetreten und willst ein Schloss bauen, mitten in diesem See?‘
Der kleine Prinz schwieg darauf. Später, als er gross geworden war, baute er das Schloss, mitten in den tiefen See hinein. Und dieses Schloss ist jetzt eines der schönsten von Dänemark.
Auf beiden Seiten des Schlosstores sieht man noch heute eine Menge Kinderschuhe in die Mauersteine eingemeisselt. Das hat der König selber so befohlen. Die kleinen Schuhe sollten eine Erinnerung an den Scherz sein, den man über ihn gemacht hatte.“ —
Hier hörte der Kapitän plötzlich auf. Er zog seine Uhr aus der Tasche und sagte:
„Aber Nonni, nun stehen wir da herum, und ich erzähle dir lange Geschichten von Christian IV., statt dass wir auf den Runden Turm hinaufgehen! Komm, wir müssen jetzt ein wenig eilen!“
Ich folgte Herrn Foss sofort zu dem geheimnisvollen, grossen Turm hin. Bevor wir durch das Tor hineingingen, fragte ich:
„Ist es nun aber auch wirklich wahr, Herr Kapitän, dass man den ganzen Weg bis oben auf den Turm hinauf mit Pferd und Wagen fahren kann?“
„Ob das wahr ist? — Wart nur einen Augenblick, Nonni, du wirst es dann gleich selbst sehen. Jedenfalls ist es sicher, dass der russische Kaiser Peter der Grosse einmal mit einem Wagen und vier Pferden hinaufgefahren ist.“
Mir schien das ganz unglaublich zu sein; aber Herr Foss versicherte mir noch einmal, dass es wirklich so gewesen sei.
Er öffnete jetzt das Eingangstor des Turmes, und wir traten hinein.
Zuerst kamen wir in einen Vorraum, in welchem links ein alter Mann mit einem Buch in der Hand an einem kleinen Fenster sass. Es war der Turmwächter.
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