LEICHT REIZBARE, MIT IHRER UMWELT ÜBERFORDERTE HUNDE
Die generelle Reizbarkeit, die ich in den letzten Jahren im Training immer öfter erlebe und von der nicht nur Auslandstierschutzhunde betroffen sind, ist unter Umständen belastender als ein spezifisch leinenreaktiver Hund. In der Regel sind es Hunde, die über alle Sinne gereizt werden, auch wenn man das als Mensch nicht so genau wahrnehmen oder nachvollziehen kann. Stellen Sie sich vor, wie überfordernd ein ganz normaler Spaziergang sein kann, wenn Reize und Impulse auf einen Organismus einprasseln, der permanent mit ausgefahrenen hypersensiblen Antennen unterwegs ist. Häufig lässt sich schwer einschätzen, ob diese Hunde nun unter Angst, Schmerzen oder dauerhafter körperlicher, emotionaler oder mentaler Erschöpfung leiden, Panikreaktionen zeigen oder so hoffnungslos überfordert und verzweifelt sind, dass sie körperlich reagieren. Ihr autonomes Nervensystem ist permanent auf Alarmstufe Rot, ihr Sympathikussystem läuft ununterbrochen auf Hochtouren (mehr dazu später im Abschnitt „Was bedeutet Stress im Alltag?“).
Wenn nicht alle anderen Faktoren berücksichtigt werden, hilft es bei solchen Hunden wenig, ruhiges Verhalten zu trainieren und unter Signal zu stellen oder in hypoallergenes Futter zu investieren. Die Spaziergänge dahin zu verlegen, wo es besonders belebt ist – mit der Begründung, dass der Hund es ja mal lernen muss –, bedeutet für diese Hunde eine regelrechte Überflutung. Es kann sein, dass sie sich, von außen betrachtet, dann tatsächlich auffällig ruhig verhalten. In Wahrheit liegt das jedoch daran, dass ihr System überlastet ist und dichtmacht. Und wie bei allem im Leben gilt: Wenn ein Aspekt „gedeckelt“ wird, öffnet sich oftmals eine neue Baustelle … die größer ist.
Gassirunden sollten für Hund und Mensch schön und entspannend sein.
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
Gassirunden sind nicht dazu da, „gegen“ Ihren Hund zu agieren. Vielmehr geht es darum, seine Möglichkeiten und Fähigkeiten anzusprechen und zu berücksichtigen, egal, wie es um diese gerade bestellt ist. Nötig ist hier zunächst mal ein „Reset“: Spaziergänge sollten nicht mehr mit Erregung, Verunsicherung oder Überwältigung verknüpft werden, sondern mit angenehmen und sogar entspannenden Momenten. Das gelingt einfacher, als man vermutet.
KATRIEN LISMONT
„ES IST DIE ÜBERFORDERUNG WÄHREND DES VORIGEN SPAZIERGANGS, DIE DIE ERREGUNG VOR DEM NÄCHSTEN ENTSTEHEN LÄSST.“
Was will Ihr Hund mit „großem“ Verhalten sagen?
•Ich brauche Hilfe.
•Ich bin mit der Situation überfordert.
•Ich will hier weg.
•Ich möchte, dass die Reize verschwinden.
•Mir geht es nicht gut.
•Mir tut etwas/vieles weh.
•Ich weiß nicht, was du von mir erwartest.
•Ich habe keine Lösung für diese Situation.
•Ich habe versucht, es leiser zu sagen, aber ich fühle mich nicht verstanden.
Was will er Ihnen damit nicht sagen?
•Sorry, aber da muss ich durch.
•Ich habe nur ein wenig Angst.
•Das da ist kein Grund für Angst in dem Ausmaß.
•Ich übertreibe es gern ein wenig, das bringt mir Aufmerksamkeit.
•Ich bin stur und möchte das hier so nicht.
•Ich möchte bestimmen, wie es geht.
•Ich bin ein böser, unerzogener Hund.
•Es hilft mir, wenn du lauter und immer forscher mit mir sprichst.
•Ich brauche eine härtere Hand.
Mit „großem“ Verhalten drücken Hunde häufig aus, dass sie mit einer Situation überfordert sind.
(Foto: Shutterstock.com/alexei_tm)
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
WAS HAT GASSIGEHEN MIT VERHALTENSTRAINING ZU TUN?
Verhalten befindet sich stets im Wandel und Lernen findet immer statt. Unsere Hunde reagieren also ständig auf das, womit sie in ihrer Umwelt konfrontiert werden. Eine Erfahrung, die der Hund heute macht, wird sein Verhalten in der nachfolgenden ähnlichen Situation beeinflussen. Das kann der nächste Jogger auf der gleichen Runde sein, der Nachbarshund bei der Runde am nächsten Tag oder auch der Freilauf mit „Kumpeln“ in der nächsten Woche.
Solche Erlebnisse sind nicht nur Begegnungen mit anderen Artgenossen, sondern bei bestimmten Hunden geht es auch darum, wie sehr der Spaziergang ihren Körper gefordert hat, wie beeindruckend die unterschiedlichen Reize waren und wie gut sie damit umgehen konnten. Die körperliche, emotionale und mentale Fähigkeit jedes einzelnen Hundes beeinflusst ebenfalls, wie er mit schwierigen Situationen zurechtkommt. Das Bestreben aller Hunde ist, unversehrt und mit möglichst wenig Konflikten aus einer Situation herauszukommen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Eins ist sicher: Für jedes Verhalten Ihres Hundes gibt es einen triftigen Grund. Dieser ist nicht zwingend einer genetischen Eigenschaft (seine Mutter war auch so), einem unerklärlichen Charakterzug (die Hunde dieser Rasse sind alle so …) oder seiner Herkunft (Tötungsstation, schlechte Haltung …) zuzuschreiben. Manchmal reicht ein abschüssiger Weg mit grobem Schotter, um Ihren Hund zu einem Sitzstreik zu veranlassen. Vielleicht sind seine Pfoten überempfindlich, weil ihn anderswo im Körper Schmerzen plagen? Oder vielleicht tun ihm die Schultergelenke weh, vor allem bergab. Er will Ihnen mit seinem Verhalten nicht zeigen, wer das Sagen hat oder wer der Stärkere ist. Er möchte weder bestimmend noch bockig oder dumm sein. Er handelt so, wie es für ihn gerade am günstigsten scheint. So passen unsere Hunde Tag für Tag, Gassirunde für Gassirunde ihr Verhalten an. Sie streben ein konfliktfreies, harmonisches Dasein an. Nur verstehen wir häufig ihr Verhalten nicht oder falsch und ergreifen Maßnahmen, um es zu unterbinden oder zu bestrafen. Das ist dann der Punkt, an dem viele Hunde auf Plan B zurückgreifen und zum „besonderen“ Hund werden: weil wir ihre leisen Zeichen übersehen und übergangen haben.
Was genau können Gassirunden bewirken?
Meine Antwort ist: Eine Menge! Für viele Hunde sind sie die Highlights in ihrem Alltag, der sich meistens in unseren vier Wänden abspielt. Sie bieten die Möglichkeit, an die frische Luft zu kommen, die Nase und das Hirn mit Millionen von Geruchsinformationen zu stimulieren, den Körper zu bewegen, Impulse für alle Sinne zu sammeln und auch für andere Hunde Informationen zu hinterlassen. Für viele besondere Hunde ist damit allerdings auch eine körperliche, mentale und emotionale Überforderung verbunden.
Ideal ist daher, die Gassirunden so zu gestalten, dass ein sensorischer Input über alle Sinne in für den jeweiligen Hund angemessener Dosis erfolgt. „Den Hund Hund sein lassen“, etwas, was häufig propagiert wird, klingt erst mal toll und empathisch. Wenn wir bei unseren Runden jedoch ausschließlich das tun, werden wir in Bezug auf die Schwierigkeiten im Alltag nicht viel weiter kommen. Wir brauchen Interaktion, Kooperation und Kommunikation mit unserem Hund, vor allem unterwegs. Es geht darum, dass wir als Sozialpartner kommunizieren und Dinge miteinander unternehmen. Die Kommunikation sollte dabei in zwei Richtungen stattfinden: Einerseits müssen wir Menschen die Körpersprache und Handlungen des Hundes in den kleinsten Details wahrnehmen, verstehen, darauf eingehen und ihm gegebenenfalls helfen. Andererseits müssen wir ihm in Form von einigen wichtigen Signalen Verhaltensweisen beibringen, die für die gemeinsame Bewältigung des Alltags nützlich sind und den damit verbundenen Stress reduzieren können. Ritualisierte und routinierte Abläufe wie zum Beispiel, sich beim Vorbeifahren eines Autos an den Wegrand zu setzen, sich nach einem Abruf anleinen zu lassen oder sich auf Distanz hinzusetzen, können lebensrettend sein.
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