»Hör mal, er ist ein Freak. Er ist besessen. Lass es einfach ruhen. Du hast nicht die Zeit, dich um die Cliffs dieser Welt und ihre schrägen Ansichten zu sorgen.«
Das stimmte, die Zeit hatte sie nicht. Trotzdem …
»Aber es wäre ‘ne ziemliche Herausforderung, oder nicht? Die Story hat mich nie wirklich in Ruhe gelassen. Hast du gewusst, dass es schon fast sechzig Jahre her ist, und wir wissen immer noch nicht, was wirklich passiert ist?«
Andrew verdrehte die Augen. »Und das werden wir auch nie erfahren. Es ist sinnlos, Nat. Und nicht zu vergessen, Selbstmord.«
Das ging ihr sofort gegen den Strich, wie er zweifellos erwartet hatte. Auf seine eigene Weise war Andrew auch recht geschickt darin, sie aufzuziehen. »Du darfst nicht vergessen, ich bin Kanadierin. Kein Weichei wie du.«
»Ja ja, erspare mir die Geschichten von deiner Kindheit im Iglu, mit dem Hundeschlitten zur Schule und so weiter. Du bist in Vancouver aufgewachsen, nicht gerade vergleichbar mit russischen Bergen.«
»In Vancouver bin ich aufs College gegangen, nicht aufgewachsen, woran man wieder mal sehen kann, dass du keine Ahnung hast. Wir hatten vielleicht keine Iglus in meiner Heimatstadt, aber der Iditarod-Champion lebte gleich um die Ecke.«
»Von mir aus. Nat, willst du so wirklich deinen Urlaub verbringen? Dir auf einem gottverlassenen russischen Berg den Arsch abfrieren, bei dem Versuch, ein fast sechzig Jahre altes Rätsel aufzuklären?«
»Du musst zugeben, das klingt nach ‘ner Menge Spaß, oder nicht?« Cliffs letzte Stichelei war vergessen, als sie im Geiste bereits die Packliste durchging. »Das weckt die Lebensgeister.«
»Sich auf einem Himmelfahrtskommando abzuquälen, ist das Gegenteil von Spaß. Ganz abgesehen davon, dass es nicht gerade neu ist, sozusagen – und du wirst mir den Ausdruck verzeihen – todlangweilig.«
Nat als wenig originell zu bezeichnen, war fast genauso schlimm wie sie einen Feigling zu nennen. »Wieso das? Wer und wann?«
»Komm schon, Nat. Jeder Dahergelaufene mit ‘nem Blog und ‘nem Tippfinger hat schon über das Unglück am Djatlov-Pass geschrieben. Es ist nicht gerade bahnbrechend. Wenn du schon dein Leben riskieren willst, dann such‘ was nettes Unerklärliches, das noch keiner entdeckt hat.«
Sie schnaubte und hoffte damit die entsprechende Menge Abscheu herüberzubringen. »Wie diese Listicles? Die werden den Vorfällen nicht mal annähernd gerecht, total lächerlich und amateurhaft. Das ist doch nichts weiter als der immer gleiche Wikipedia-Artikel mit ‘nem neuen Aufhänger. Wenn ich das Thema schon aufgreife, dann mache ich es richtig. Ich stelle ein Team zusammen und stelle eigene Ermittlungen an, was da draußen wirklich passiert ist. Wer weiß, vielleicht finde ich sogar ein paar Antworten. Oder wenigstens eine interessante Theorie.«
»Wow, das war noch nie da. Und ganz bestimmt hat noch niemand einen Film darüber gemacht.«
»Das war reine Fiktion, Andrew. Ich bin kein milchbärtiger Filmstudent mit Anflügen von Größenwahn.«
»Nein, du bist eine erfahrene Journalistin. Und deswegen schockt es mich so, dass du das ernsthaft in Erwägung ziehst. Wie kommst du darauf, dass die russische Regierung da mitspielt? Glaub’ mir, es ist Zeitverschwendung. Du lässt dich von diesem Kerl in ein frühes Grab locken.«
»Wo ist dein Sinn für das Rätselhafte? Macht es dich kein bisschen neugierig?« Je mehr er dagegen argumentierte, desto mehr wuchs ihre Begeisterung. Alle ihre besten Ideen fingen damit an, dass jemand sie für verrückt erklärte. Okay, auf einer verlassenen, von Beulenpest heimgesuchten Insel herumzuspringen, war nicht gerade der vernünftigste aller Einfälle gewesen, die sie je gehabt hatte, aber die Zuhörer liebten solches Zeug. Ihre Quoten waren in die Höhe geschossen und die Sponsoren hatten nicht lange auf sich warten lassen. »Lass es mich so formulieren – würde eine dicke Gehaltserhöhung dich neugierig machen?«
Andrews Mundwinkel zuckten. Nur für eine Sekunde, aber es war genug. »Na gut«, sagte er. »Ich rufe nachher bei der russischen Botschaft an.«
»Du bist großartig.«
»Und du bist bekloppt.«
»Danke.« Mit den Kopfhörern auf den Ohren lauschte sie ihrer Musik.
Es war schon zu lange her, dass jemand sie so genannt hatte. Und es fühlte sich verdammt gut an.
Ihr Handy klingelte sie mitten in der Nacht wach, was für Nat eher drei Uhr morgens war. Gerade erwacht aus einem Albtraum, in dem die Russen ihren Reisepass eingezogen und sie in den Gulag geworfen hatten, tastete sie orientierungslos nach ihrem Telefon.
»Andrew?«
Sie hatte sich beinahe daran gewöhnt, dass ihr Produzent zu jeder Tages- und Nachtzeit anrief. Sobald ihm klar war, dass sie ihre Meinung über Djatlov nicht ändern würde, hatte er sich den Vorbereitungen gewidmet, und ein Teil davon war, das beste Team der Welt zusammenzustellen. Das bedeutete: Kanadier. Nat war egal, wie viele Meister-Felskletterer in Kalifornien lebten – sie wollte Leute, die Kälte verstanden und Erfahrung darin hatten, extreme Temperaturen zu überstehen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Andrew ihrer Logik unterwarf und einsah, dass es Logik war, keine verschrobene Form von Patriotismus, aber von da an warf er sich voll und ganz in das Projekt hinein. Er hatte es geschafft, ein junges Inuit-Pärchen anzuheuern. Anubha und ihr Mann Joe lebten auf traditionelle Weise und Anubha war eine geschickte Fährtensucherin. Ihr Wissen bezüglich der arktischen Tierwelt würde dem Team zugutekommen. Nat hatte zwar kein Interesse daran, ihre Ermittlung zu einer Survival-Show zu machen, aber es war klug, sich nicht allein auf ihre Vorräte zu verlassen.
Bisher hatte Andrew jede Hürde genommen, bis auf eine. Nat wollte einen Mansen als Teil des Teams. Sie glaubte nicht an den Unsinn, dass das örtliche Volk keinen Fuß auf den Berg des Todes setzte. Nicht für eine Sekunde. Jeder hatte seinen Preis.
Dies musste ihr Produzent sein, um triumphal zu verkünden, dass er alle ihre Bedingungen erfüllt hatte.
»Andrew, du bist ein Genie. Wie zum Teufel hast du einen gefunden?«
»Ich bin froh, dass du meinen Ratschlag angenommen hast.«
Nat verkrampfte. Die Stimme, rau wie eine Käsereibe auf Kies, gehörte nicht ihrem Produzenten. »Wer ist da?«
»Du weißt, wer ich bin. Du solltest lieber fragen, warum ich erst jetzt anrufe.«
»Cliff.«
»Bingo.«
Sie umklammerte ihr Bettzeug, zog es enger um ihren Körper. »Woher hast du diese Nummer?« Ihre Handynummer war nirgendwo aufgeführt. Sehr wenige Menschen waren im Besitz davon und so war es ihr am liebsten. Sie gab ihre Nummer sicherlich nicht an ihr Publikum weiter.
»Du bist nicht die Einzige, die Recherchen anstellen kann.«
»Wenn du nochmal anrufst, werde ich das melden«, sagte sie, ihre Stimme stark und fest und überhaupt nicht so verängstigt, wie sie sich fühlte.
»Wegen eines Anrufs? Was habe ich verbrochen?« Seine Stimme war zwar rau, aber auch so geschmeidig wie die eines Radiomoderators. Nat kam es vor, als ob sie die Stimme schon einmal irgendwo gehört hatte. Wenn sie ihn noch ein Weilchen in der Leitung halten konnte, würde ihr vielleicht einfallen, wo.
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