In Schmidheim würde er sie wohl am Firmament entdecken können, vermutet er. Eine plötzliche Sehnsucht überkommt ihn, nach Stille, nach Einsamkeit, nach Ruhe. Der Redakteur wünscht sich, er wäre an diesem verlassenen Ort, würde den Flügelschlag der vorbeifliegenden Hufeisennase auf seiner Wange spüren, das leise Rascheln der Mäuse und das Rauschen der Bäume hören. Diese Gedanken beruhigen ihn, er fühlt sich wieder sicher und geborgen in seiner Abgeschiedenheit. Weder ein einsamer Wolf, noch Fichtenried oder der Gedanke an das verwirrende Gespräch mit Annette können ihm nun Angst machen. Melchior gibt sich der betäubenden Wirkung des gehaltvollen Rotweins hin und schließt die Augen.
Der nächste Tag kündigt sich im Osten mit einer zaghaft aufgehenden Sonne und glitzernden Eiskristallen auf Windschutzscheiben, Parkbänken und Sträuchern an. Gut gelaunt und ausgeschlafen fährt Melchior mit dem Aufzug in den Newsroom. Nicht einmal die nervige Suche nach einem freien Arbeitsplatz kann ihn heute bekümmern. Er verbucht seine heitere Stimmung unter der Rubrik „Frühlingsgefühle“ und startet den Rechner. Tatsächlich ist sein Text über den Truppenübungsplatz der meistgeklickte Artikel der Onlineausgabe und zwei Leser haben bereits Kommentare per Email an ihn geschickt. Stolz erfüllt ihn. Er, der alte Hase, hat es geschafft, den Zeitgeist zu treffen.
Doch dieses Hochgefühl währt nicht lange. Schon bei der Redaktionskonferenz eine halbe Stunde später ist er von allen um sich herum genervt. Der Volontär bringt einen abstrusen Themenvorschlag. Er will die Frühlingsgefühle der Tier- und Menschenwelt miteinander vergleichen. Zum Glück wird die Idee einstimmig abgelehnt. Ansonsten stehen die üblichen Berichterstattungen an: die finanziell angespannte Situation des regionalen Fußballvereins, die Parteispendenaffäre - nach wie vor ein Renner bei den Lesern - und kulturelle „Highlights“ wie eine langweilige Ausstellungseröffnung und ein spröder Ballettabend. Aus dem Kulturressort hält er sich lieber raus. Seine Kritiken wären durchweg niederschmetternd.
Melchior verfolgt die weitere Diskussion nicht länger. Er denkt an Annette und das Telefongespräch zurück. Kann es tatsächlich sein, dass seine Familie mit ihm und seiner Großcousine ausstirbt und nichts zurückbleibt? Wie konnte das geschehen? Nach ihnen wird es die Beerbauers nicht mehr geben. Diese Erkenntnis trifft ihn, so spät in seinem Leben, schwer. Jahrelang hatte er es vermieden sich mit seiner Familie und der Verwandtschaft zu befassen. Was ihm aber noch mehr zu schaffen macht ist die Tatsache, dass er es in der Hand hätte, die Situation zu ändern, dafür zu sorgen, dass es sich anders entwickelt. Aber dazu müsste er sich durchringen, seinem besten Freund endlich die Wahrheit zu sagen. Doch alleine die Vorstellung, seine Verfehlung und die Konsequenz laut vor Franzi auszusprechen, lässt ihn in eine angstvolle Erstarrung verfallen.
Was würde sein Großvater Anderl dazu sagen, dass die Linie der Beerbauers nicht weitergeführt wird? Wäre Melchior in seinen Augen ein Versager, der die Familie im Stich gelassen hat? Um was geht es ihm eigentlich? Es ist niemand mehr da, der ihn anklagen könnte. Annette hat ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass sie mit der Situation kein Problem hat. Wieso nagt es dann trotzdem an ihm, wundert er sich.
„Danke. Dann mal ran an die Arbeit!“
Die Redaktionsleiterin beendet die Konferenz mit der üblichen Floskel und schickt die Kollegen hinaus. Melchior kommt langsam wieder zurück ins Hier und Jetzt, bleibt sitzen und wartet. Sein Name war bei der Vergabe der Aufgaben nicht gefallen, oder? Es scheint, als ob er für heute keinen Auftrag hätte.
„Melchior, wie viel Resturlaub aus dem letzten Jahr steht dir eigentlich noch zu?“
„Resturlaub?“ Die Frage kommt unerwartet. „Keine Ahnung. Gibt es so etwas bei uns?“
„Jetzt sei nicht albern. Natürlich.“ Etwas verlegen zieht sie ein Blatt Papier aus ihrer Mappe. „Nur weil du in den letzten Jahren darauf verzichtet hast, heißt das nicht, dass der Urlaub dir nicht zusteht. Laut Personalabteilung hast du noch zwölf Tage aus dem letzten Jahr übrig. Wenn man die Wochenenden wegrechnet und deine Überstunden einbezieht, dann kannst du bis zum Monatsende daheim bleiben.“
Er will sich seine Verwirrung nicht anmerken lassen. Was zum Teufel passiert hier gerade? Wollen die mich loswerden, ist sein nächster Gedanke. Melchior richtet sich auf und spielt scheinbar souverän mit seinem Kugelschreiber. Kommen lassen, ist seine Devise. Sie rückt schon noch damit raus, was hier eigentlich los ist.
„Es wirkt jetzt vielleicht etwas komisch auf dich“, ist ihre einleitende Antwort. „Aber die Personalabteilung macht schon lange Druck. Die neuen Qualitätsstandards müssen eingehalten werden. Dazu zählt auch, dass wir uns an die Arbeitszeiten und Urlaubsvereinbarungen halten. Und zwar strikt. Es läuft jetzt alles ein bisschen anders. Alles wird reguliert, kontrolliert und kontinuierlich verbessert. In deinem Fall zu deinen Gunsten“, setzt sie süffisant hinzu.
„Dass ich nicht lache! Die neuen Redakteure werden mit lausigen Verträgen abgespeist, Druckerei und andere Teile des Verlags werden in Tochterfirmen ausgelagert und alles muss schneller, rentabler und zeitgemäßer werden. Das passiert einzig und allein aus einem Grund: Um Geld zu sparen. Es läuft halt nicht mehr so gut mit den Abonnenten, sie sterben einfach weg. Und online Geld zu verdienen ist nicht ganz einfach. Das ist mir schon klar.“
Melchior macht eine theatralische Pause.
„Und du willst mir jetzt erzählen, dass ich bezahlt freinehmen kann? Wie passt das zusammen?“
„Mir wäre es auch lieber, wenn ich dich weiter einplanen könnte. Gerade mit deinem heutigen Artikel hast du wieder mal gezeigt, dass du die Leute erreichen kannst. Auch die jungen, die nur noch online sind. Trotzdem …“
„Was, trotzdem?“, blafft er sie an.
Sie rollt mit den Augen und blickt kurz nach oben. Das ist es also. Entscheidung der Chefetage, durchzuckt ihn die unschöne Erkenntnis. Ich bin ihnen wohl zu teuer. Sie können es gar nicht mehr abwarten, bis zu meiner Rente. Die große Verabschiedung und das Firmenjubiläum kann ich mir wohl abschminken.
„Wir sehen uns dann am nächsten Ersten wieder?“
Unsicher blickt die um einiges jüngere Frau ihn an. Sie ist perfekt geschminkt, trägt einen schwarzen Bleistiftrock, hochhakige Pumps und eine helle Bluse aus einem fließenden Stoff. Die blondgefärbten Haare sind zu einem akkuraten Pagenkopf geschnitten. Melchior könnte schwören, dass sie noch nie im Leben eine Zigarette geraucht hat, geschweige denn etwas anderes. Ihr Erscheinungsbild gibt ihm zu denken. Seinerzeit waren die Redakteurinnen ganz andere Kaliber, robust, aufsässig, oft sogar revolutionär. Sie scheint sich seinen Blicken ausgesetzt nun unwohl zu fühlen. Nervös sucht sie ihre Unterlagen zusammen und geht schnell zur Tür. Dann dreht sie sich nochmal um.
„Du hast doch bestimmt mehr Material über dieses Dorf gesammelt? Ich dachte mir, die Geschichte gibt vielleicht noch was her. Vielleicht kann man ein Buch daraus machen? Ich habe gehört, dass die Geschäftsführung den verlagseigenen Buchverlag wieder aufleben lassen will. Vielleicht hättest du daran Interesse?“
Bevor Melchior antworten kann, hört er schon das leise Klicken der ins Schloss fallenden schallgedämpften Tür. Ratlos bleibt er zurück.
Der Fluss strömt schneller als üblich in seinem steinernen Bett an ihm vorbei. Er hat sich dem tristen Braun seiner Umgebung angepasst, stellt Melchior fest, während er über die alte Brücke schlendert. Wo er auch hinblickt, er sieht nur gedeckte und stumpfe Farben. Von Frühlingserwachen ist hier, in der steinernen Mitte der Stadt, nichts zu spüren. Die wenigen Bäume in der Umgebung sind noch kahl und tragen schwer an den Wunden, die die Mitarbeiter des Gartenamtes ihnen vor wenigen Tagen zugefügt haben. Ob die Bäume wirklich von Pilzen oder schmarotzendem Getier befallen waren und nur noch eine Radikalkur das Absterben der jahrzehntealten Riesen verhindern konnte, kann der Journalist nicht beurteilen. Die zurechtgestutzten Bäume sehen jedenfalls bemitleidenswert aus.
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