Sie sehen so aus, wie ich mich fühle, folgert er und beschleunigt seinen Schritt, um dem jämmerlichen Anblick zu entkommen.
Die Gassen der Altstadt sind so gut wie menschenleer. Früher wäre ihm diese Tatsache nicht aufgefallen. Meist durchquerte er Straßen und Passagen in eiligem Tempo auf dem Weg zu einem Termin. Er machte sich nicht die Mühe nach links oder rechts zu schauen. Und wenn er abends eines seiner Stammcafés ansteuerte, war es meist schon dunkel. Er war nicht an anderen Menschen interessiert, alleine das Grüßen strengte ihn an. Ganz früher hatte sich Melchior oft das Hirn zermartert auf der Suche nach dem Namen zu einem Gesicht, das ihn freundlich grüßte. Irgendwann gab er es auf. In seinem Beruf traf er jeden Tag neue Menschen. Es war unmöglich, ihre Namen zu behalten.
Jetzt aber nimmt er das Hallen seiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster wahr. Er fühlt sich seltsam verwundbar, alleine und ausgesetzt in einer Welt, die ihm fremd ist. Melchior versucht die Blicke der wenigen Passanten zu meiden, hat jedoch den Verdacht, dass diese ihm fragend hinterherblicken. Um dieses unbehagliche Gefühl nicht weiterhin aushalten zu müssen, betritt er eine kleine Buchhandlung, die gerade öffnet.
Ein helles, metallisches Klingeln kündigt seinen Besuch im Laden an. Er registriert verwundert, dass die Tür nicht automatisch schließt und nur mit einem kräftigen Ruck zugemacht werden kann. Wärme und der trockene, unverwechselbare Geruch von Papier und Druckerfarbe empfängt ihn. Der Mann hinter der Kasse nickt ihm freundlich zu, vertieft sich aber sofort wieder in eine vor ihm liegende Liste. Sonst scheint niemand da zu sein.
Melchior lässt seinen Blick über die aus der Mode gekommenen Eichenholzregale schweifen, erfasst die verschiedenen Rubriken und geht schließlich zu einer Reihe von Büchern, die auf einem kleinen Tischchen in der Mitte des Raums gestapelt sind. Die Ausgaben mit grellen Covern und eigenartigen Titeln passen überhaupt nicht in die gediegene Atmosphäre der Buchhandlung. Er wendet sich ab und tritt an das gegenüberliegende Regal. Die Rubrik „Heimatgeschichte“ liegt vor ihm. Rasterartig erfasst er die Titel. Bei den Begriffen „Truppenübungsplatz“ und „Hohenfels“ bleibt er hängen. Ohne nachzudenken greift er nach einem dicken Wälzer, zieht ihn heraus und geht zur Kasse.
„Eine sehr gute Wahl!“, lobt ihn der Mann an der Kasse. „Es ist unser letztes Exemplar. Soviel ich weiß, ist die Auflage ausverkauft. Es wird wohl auch keine weitere geben, das Interesse an diesem Teil unserer Geschichte hat stark nachgelassen. Liegt vor allem daran, dass bald niemand mehr da ist, der die Vertreibung von dort noch selbst miterlebt hat.“
Melchior runzelt die Stirn. Er fühlt sich überrumpelt, findet keine Antwort auf die Ausführungen seines Gegenübers. Dieser scheint seinen Fauxpas sofort zu bereuen.
„Tut mir leid, ich rede manchmal einfach so vor mich hin.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich hatte das Buch nur intuitiv aus dem Regal genommen, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich hatte kürzlich mit dem Thema zu tun, daher kam wohl mein Interesse. Aber nun weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was ich damit soll.“
Der andere deutet auf die Tageszeitung, die neben der Liste liegt.
„Haben Sie den Artikel geschrieben?“
Melchior fühlt sich ertappt. Er nickt langsam.
„Wunderbar! Ich habe ihn mit Freude gelesen! Sie haben das wirklich fabelhaft recherchiert.“ Er macht eine kleine Verbeugung. „Ich kann das beurteilen. Meine Tante stammte aus einem Nachbardorf von Schmidheim und musste 1951 ebenfalls alles zurücklassen. Sie hat oft darüber gesprochen und der Verlust hat sie sehr geprägt.“
„Danke, das freut mich sehr. Also Ihr Lob meine ich. Nicht die Tatsache, dass Ihre Tante alles verloren hat.“
„Schreiben Sie weiter darüber?“
Die Frage ist wohl nur eine höfliche Floskel. Melchior hat nicht den Eindruck, als ob der Mann wirklich an einer Antwort interessiert wäre. Er tippt bereits den Betrag in die Kasse und wartet auf sein Geld. Melchior begleicht seine Schuld in bar und verabschiedet sich mit einem unverbindlichen „Mal sehen“. Zurück in der Gasse spürt er, wie seine schlechte Stimmung einem bekannten Aktionismus weicht. Der innere Antreiber meldet sich zu Wort. Sofort ist es positiv angestachelt und beginnt zu überlegen, wie er mehr aus der Geschichte herausholen könnte. Pfeifend und mit zielstrebigen Schritten macht er sich auf den Heimweg.
Daheim angekommen steuert Melchior direkt das Arbeitszimmer und seinen Schreibtisch an. Wie immer, wenn er am Anfang einer vielversprechenden Geschichte sitzt, ist er angespannt, aber auf eine sehr positive Art und Weise. Man könnte es vielleicht mit einer Jagd vergleichen, bei der man am Anfang noch nicht genau weiß, was auf einen zukommen wird. Er hat sich drei Gründe zurechtgelegt, wieso er sich an dem Projekt versuchen will. Erstens will er seine Zwangspause nicht mit Belanglosigkeiten füllen. Bald geht er in Rente. Dann bleibt ihm noch genügend Zeit um lange Spaziergänge zu machen, stundenlang über Rezepten zu schmökern und dann umständlich in der ganzen Stadt die exotischen Zutaten dafür zusammenzutragen oder um sich vielleicht sogar sportlich zu betätigen. Zweitens hat ihn der Ehrgeiz gepackt und er empfindet den lapidar dahingeworfenen Vorschlag seiner Redaktionsleiterin als Herausforderung. Er will beweisen, dass er mehr drauf hat, als ein einfacher Wald- und Wiesenschreiber bei einer Lokalzeitung zustande bringt. Den dritten Grund will er sich zuerst nicht eingestehen. Doch seit der Redaktionskonferenz treibt ihn etwas um, das er so noch nicht kannte: Er hat das Gefühl Verantwortung tragen zu müssen. Verantwortung für die Beerbauers, für seine Familie. Das Bild von Anderl taucht vor ihm auf. Für den Großvater waren seine Frau, seine Tochter und sein Enkelkind das Wichtigste in seinem Leben. Für sie hätte er alles gegeben. Mehr noch, er hat sich Zeit seines Lebens für jeden eingesetzt, der unter seinem Dach lebte. Seine Familie und sein Hof waren ihm heilig. Um beide zu schützen, setzte er am Ende des Zweiten Weltkriegs sogar sein eigenes Leben aufs Spiel.
Der Hof ist schon lange verkauft und somit für immer verloren. Nun liegt es an Melchior, zumindest die Gene dieser Familie weiterzutragen und den Namen zu vererben. Sollte er in diesem Punkt auch noch scheitern, wäre er wohl in den Augen seiner Vorfahren ein Versager, oder?
Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um endlich reinen Tisch zu machen? Sobald er es wagt, diesen Gedanken zu formulieren, steigt die Angst in ihm auf, Franzi zu verlieren. Seit dreißig Jahren hadert er mit seinem Fehltritt und dessen Folgen. Zum wohl tausendsten Mal verflucht er sich und Ella und würde alles dafür geben, um ungeschehen zu machen, was in dieser lauen Sommernacht passierte. Um Franzi die Wahrheit zu sagen, dazu fehlt ihm der Mut. Sie würde ihrer Freundschaft ein Ende bereiten und diese Vorstellung ängstigt Melchior mehr als alles andere. Er kann und möchte seinen besten Freund nicht verlieren. Er ist alles, was ihm geblieben ist. Franzi, Ella und Caspar sind nun seine Familie.
Melchior vergräbt sein Gesicht zwischen den Händen und ist bemüht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl zu ersticken blockiert sein Denken. Krampfhaft versucht er sich an die Technik zu erinnern, die Asthmatiker in dieser Situation anwenden. Dann fällt es ihm wieder ein: die Lippenbremse. Beim Ausatmen lässt er die Luft durch eine kleine Öffnung der Lippen entweichen. So entsteht ein Rückstau, der die Lungen wieder weitet. Langsam reguliert sich seine Atmung und er wird ruhiger.
Zehn Minuten später hat er sich wieder gefangen. Sein Blick fällt auf den Familienstammbaum, der bei den Unterlagen liegt, die er für den gestrigen Artikel gebraucht hatte. Aus Erzählungen seiner Oma weiß er, dass die Ehe seiner Urgroßmutter Agathe mit seinem Urgroßvaters Anton Beerbauer arrangiert war. Der Witwer hatte nach dem Tod seiner zweiten Frau Sabina deren Schwester geheiratet. Melchior versucht sich vorzustellen, wie Agathe sich damals gefühlt haben mag und beginnt ohne weiter darüber nachzudenken mit dem Schreiben. Er hat den richtigen Einstieg für die Geschichte gefunden, auch wenn der über ein halbes Jahrhundert vor der Vertreibung der Schmidheimer liegt.
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