Meinen sonstigen Lebensstil änderte ich keineswegs. Ich rauchte weiterhin meine filterlosen, stinkenden französischen Zigaretten, trank lieber ein Glas Rotwein oder ein Bier zu viel als zu wenig und aß, was mir schmeckte. Das war aus heutiger, gesundheitsorientierter Perspektive sicherlich unvernünftig, mir aber völlig egal. Die gestrengen Ansichten des Laufpapstes Dr. van Aaken schob ich ebenfalls einfach beiseite. Das mag ein naives und dummes Verhalten gewesen sein, aber ich sah damals keineswegs ein, mich zu kasteien und auf die kulinarischen Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten. Wozu auch? Ich lief und lief und fühlte mich fit. Das war für mich entscheidend, esoterische Theorien von Dr. van Aaken hin oder her.
Hin und wieder stellte ich mir die Frage, ob ich denn ein richtiger Läufer war. In gewisser Hinsicht schon, dachte ich mir, denn ich lief fast täglich und im Vergleich zum Normalbürger, der sich nicht sportlich betätigte, auch längere Strecken. Andererseits eher nein, denn auf noch umfangreichere Strecken hatte ich keine Lust. Das wollte ich entweder für später einmal aufheben oder gar darauf verzichten. Den Sprung vom Couch-Potato zum moderaten Ausdauerläufer hatte ich jedenfalls geschafft. Wenn ich ehrlich bin, gab es mir auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich vielen meiner Arbeitskollegen oder Bekannten jederzeit hätte davonlaufen können. Dafür gab es zwar zu keiner Zeit einen Grund, aber so kindisch der pure Gedanke auch klingt, er gefiel mir damals ganz besonders. Offensichtlich hatte das Laufen doch Auswirkungen auf Psyche und Geist.
Dr. Laubmann und sein Initialimpuls kamen mir immer wieder einmal in den Sinn. Im Akronym „LLLL“ stand das erste L für „lustig“, also „Lustige Läufer leben länger“. Lustiger war ich nach meinem Empfinden durch das Laufen noch nicht geworden. Dafür nahm ich die Sache wohl zu ernst. Ich konnte schließlich nicht allein durch den Wald laufen und dabei lachen. Dazu brauchte es anscheinend doch die Gesellschaft der Laufgruppe und das Zusammensein nach dem Laufen, bei Bier und Wein. Als defizitär hinsichtlich des Humors interpretierte ich meine Laufsituation aber keinesfalls. Es war, wie es war, und es war meiner Meinung nach gut so.
Kapitel 4
Läuferische Fortschritte und Erkenntnisse aus dem Buch „Bewegungstraining“ von Dr. Kenneth Cooper
An einem herrlichen Sonntag im Spätsommer meines ersten Laufjahres war ich ausnahmsweise einmal mit dem Fahrrad unterwegs und stieß im Biergarten eines Landgasthofs auf eine Gruppe von verschwitzten Läuferinnen und Läufern. Sie hatten ihren Lauf offensichtlich bereits absolviert und standen jetzt in Gruppen, noch in Laufkleidung, herum. Einige palaverten blendend gelaunt über Fitness, Laufstrategien, Optimierung der Leistung, Energie fördernde Kraftriegel, also all die Themen, die sie als kleinster gemeinsamer Nenner verband. Andere übten sich in der hohen Kunst des Jammerns über all die Wehwehchen und Verletzungen, die den gemeinen Läufer ereilen können, also über Zerrungen, Verstauchungen, Blutblasen an den Zehen, Fersensporn, Dehydrierungserscheinungen und Magenkrämpfe, damit ebenfalls über Lieblingsthemen aller Läufer auf dieser Welt. Worüber hätten sie auch reden sollen? Es war das Laufen, das sie verband, nicht der Beruf oder ein sonstiges gemeinsames Schicksal.
Im Laufe meiner vielen Jahre als Läufer fand ich heraus, dass alle mir bekannten Läuferinnen und Läufer, die in Gruppen auftraten, in ihren Gesprächen auf Heldentaten und Triumphe einerseits oder aber Missgeschicke und Unbill andererseits fixiert waren. Damit konnte ich wenig anfangen. Neben meiner sowieso gegebenen Tendenz zum Loner und Einzelgänger hinderte mich dieses Gerede nach dem gemeinsamen Lauferlebnis, mich intensiver auf eine Laufgruppe einzulassen. Ich verstand jeden, der so etwas mochte und schätzte, oder der nach der gemeinsamen Anstrengung noch etwas Geselligkeit pflegen wollte. Mein Ding war es nicht.
Wie dem auch sei, ich stand mit meinem Fahrrad und einer Limonade an einen Zaun des Biergartens gelehnt, neben mir saßen zwei Läufer der Gruppe auf einer Bank. Sie unterhielten sich über die Mühen des steilen Anstiegs hinauf zum „Großen Kornberg“, den sie gerade überquert hatten, und den angeblich furchtbaren Schotterweg jenseits des Gipfels. Ich registrierte das so nebenbei, schärfte aber meine Sinne, als sie auf ein anderes Laufthema zu sprechen kamen. Einer von ihnen erwähnte ein Buch, das er vor kurzem mit großer Begeisterung gelesen hatte. Schau an, dachte ich mir, es gibt also außer den Büchern dieses Dr. van Aaken noch andere Bücher über das Laufen. Ich weiß, heutzutage gibt es dutzende, ach was, hunderte, aber wir reden hier über die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts und da wurde nicht so viel Sportliteratur publiziert, wissenschaftlich angehauchte schon gar nicht. Ich gab mir alle Mühe herauszufinden, um welches Buch es sich handelte. Glücklicherweise stellte der zweite Läufer eben diese Frage nach dem Titel und ich konnte vernehmen, dass es sich um ein Buch mit dem Titel „Bewegungstraining“ handelte, geschrieben von „irgend so einem amerikanischen Doktor, der mir entfallen ist“, wie der Gesprächspartner erwiderte. Mein Erinnerungsvermögen ist nicht immer das beste, aber an diese kleine Szene erinnere ich mich noch heute haargenau, vielleicht weil sie mein Läuferleben weiterhin zum Positiven beeinflusste.
Ich merkte mir den Titel und ging in der darauf folgenden Woche in eine Buchhandlung meiner Heimatstadt. Auch an den dortigen Dialog erinnere ich mich genau.
„Hallo, ich hätte gerne ein Buch über Bewegungstraining.“
„Ah ja.“
„Nein, falsch, wissen Sie, ich meine eigentlich nicht ein, sondern das Buch über Bewegungstraining.“
„Aha. Und wie heißt das Buch?“
„Bewegungstraining.“
„Aha. Haha. Und wer soll das geschrieben haben?“
„So ein amerikanischer Doktor oder Professor.“
„Hm. Geht es etwas genauer?“
„Leider nein.“
Wir lebten damals noch in der Computer-Vorzeit, eine heute übliche kurze Recherche im Netz gab es nicht. So standen die Buchhändlerin und ich vor dem Regal der Abteilung „Hobbys, Sport, Freizeit“ und suchten. Doch viel war da nicht, jedenfalls kein Buch namens „Bewegungstraining“ eines Amerikaners. Ärgerlich. Die Dame blätterte etwas lustlos in einem dicken Bücherverzeichnis herum und gab mir dann die kleinen Kataloge aller aktuellen und damals populären Verlage, insbesondere Taschenbuchverlage, mit.
„Schauen Sie halt mal durch. Irgendwo muss es ja sein. Wenn es so etwas überhaupt gibt.“
„Klar gibt es das“, sagte ich trotzig.
„Wenn Sie meinen. Aber mit Verlaub: Wer liest das schon? Ich habe jedenfalls noch nie etwas von irgendeinem Bewegungstraining gehört.“
„Tja, schade, sollten Sie aber. Egal. Ich blättere das mal durch, schon nach dem bewährtem Motto ‚Wer nicht liest, bleibt dumm‘.“
Die Buchhändlerin sah mich entgeistert an und mir war klar, dass sie mich für einen Irren hielt.
Wieder hatte ich Glück und entdeckte, dass das kleine Buch „Bewegungstraining“ in der Reihe der Fischer-Taschenbücher erschienen war, bereits in der 10. Auflage. Wieder einmal etwas, was an mir vorbeigegangen war, und an der Buchhändlerin offensichtlich ebenfalls. Der Autor war dieser gewisse Dr. Kenneth Cooper, derselbe Kerl, der diesen mir vollkommen unsympathischen Coopertest entwickelt hatte, bei dem man in zwölf Minuten so oft um die 400-Meter-Bahn eines Sportplatzes laufen musste, wie einem möglich war. Das war genau der Test, der den allermeisten von uns im Sportunterricht so verhasst gewesen war. Na bravo, das konnte ja heiter werden, war meine erste Reaktion.
Ich stellte meine Ressentiments zurück, lief am nächsten Tag in die Buchhandlung und bestellte das Buch. Der Buchhändlerin glaubte ich anzumerken, dass sie mir lieber etwas Belletristisches verkauft hätte.
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