»Hereinspaziert, meine Hübsche! Willkommen, Blümchen! Bitte aufpassen, Nudel! Einen schönen Ostermorgen, Sonnenschein!« Das war Dr. Lezander, der die Gemeinde begrüßte. Soviel ich wusste, tat er das jeden Sonntag. Dr. Frans Lezander war der Tierarzt von Zephyr. Er war es gewesen, der Rebel letztes Jahr von starkem Würmerbefall geheilt hatte. Er war Holländer, und obwohl er immer noch mit starkem Akzent sprach, waren er und seine Frau Veronica meinem Dad zufolge schon aus Holland weggezogen, bevor ich überhaupt geboren war. Er war Mitte fünfzig, ungefähr eins-fünfundsiebzig groß, hatte breite Schultern, eine Glatze und einen akkurat getrimmten grauen Bart. Er trug stets schicke dreiteilige Anzüge, immer mit Fliege und einer Nelke in der Brusttasche, und dachte sich für die Gottesdienstbesucher Namen aus. »Guten Morgen, Pfirsichflaum!«, sagte er zu meiner lächelnden Mutter. Und mit einem knöchelzermalmenden Handschlag zu meinem Vater: »Nasses Wetter, was, Donnervogel?« Er drückte mir die Schulter und grinste, dass das Licht an seinem silbernen Schneidezahn aufblitzte: »Hereinspaziert, Bronco!«
»Hast du gehört, wie Dr. Lezander mich genannt hat?«, fragte ich meinen Dad, als wir die Kirche betraten. »Bronco!« Für einen Tag lang einen neuen Namen zu bekommen war stets ein Highlight des Kirchenbesuchs.
Obwohl die Holzflügel der Ventilatoren sich drehten, war die Luft im Sanktuarium abgestanden und feucht. Vorn spielten die Glass-Schwestern auf Klavier und Orgel ein Duett. Die beiden waren die perfekte Definition des Wortes seltsam . Obwohl sie keine eineiigen Zwillinge waren, sahen die altjüngferlichen Schwestern sich so ähnlich wie verzerrte Spiegelbilder. Beide waren lang und dürr, Sonia mit hochaufgetürmten weißblonden Haaren und Katharina mit hochaufgetürmten blondweißen Haaren. Beide trugen Brillen mit breitem schwarzem Gestell. Sonia spielte Klavier, aber nicht Orgel, und bei Katharina verhielt es sich genau andersherum. Je nachdem, wen man fragte, waren die Glass-Schwestern – die ständig aneinander herumzunörgeln schienen, aber in der Shantuck Street zusammen in einem wie ein Lebkuchenhäuschen aussehenden Holzhaus wohnten – achtundfünfzig, zweiundsechzig oder fünfundsechzig. Ihre seltsame Aufmachung wurde von ihrer Kleidung vervollständigt: Sonia trug nichts außer Blau in all seinen Schattierungen, während Katharina sich sklavisch an Grün hielt. Was unweigerlich zur Folge hatte, dass wir Kinder Sonia Miss Blauglas nannten und Katharina … genau, ihr habt es erraten. Aber seltsam oder nicht; sie spielten wunderbar Klavier und Orgel.
Die Bänke waren fast vollbesetzt. Es war so feuchtwarm, dass die Kirche sich wie ein Gewächshaus anfühlte, in dem exotische Hüte blühten. Auch andere Kirchengänger suchten nach Plätzen, und einer der Platzanweiser – Mr. Horace Kaylor, der einen weißen Schnurrbart und ein wanderndes linkes Auge hatte, das gruselig aussah, wenn man es anstarrte – kam durch den Gang auf uns zu, um uns zu helfen.
»Tom! Hier! Herrgott nochmal, bist du blind?«
Auf der ganzen weiten Welt gab es nur einen einzigen Menschen, der in der Kirche wie ein Hirsch zur Brunftzeit losröhrte.
Er stand auf und winkte uns über das Meer von wogenden Hüten mit beiden Armen zu. Ich konnte spüren, wie meine Mutter beschämt den Kopf einzog. Mein Vater legte ihr den Arm um die Schultern, als wollte er ihr das Rückgrat stärken. Granddaddy Jaybird schaffte es jedes Mal seinen nackten Arsch zu zeigen , wie mein Dad es nannte, wenn er dachte, ich würde es nicht hören. Heute würde keine Ausnahme sein.
»Wir haben euch Plätze freigehalten!« , brüllte mein Großvater und brachte die Glass-Schwestern aus dem Konzept – eine spielte eine zu hohe Note, die andere eine zu tiefe. »Kommt, bevor sie jemand klaut!«
Grand Austin und Nana Alice saßen auf derselben Bank. Grand Austin hatte einen Leinenanzug an, der aussah, als wäre er im Regen um zwei Größen eingelaufen. Sein faltiger Hals wurde von einem gestärkten weißen Kragen und einer blauen Fliege eingeklemmt, seine schütteren weißen Haare waren nach hinten gekämmt und seine Augen voller Elend, so wie er dort das Holzbein unter die Bank vor sich gestreckt dasaß. Er saß neben Granddaddy Jaybird, was seinen Unmut nur noch verstärkte: Die beiden verstanden sich so gut wie Katz und Maus. Nana Alice dagegen war ein Bild reinen Glücks. Sie trug einen mit kleinen weißen Blumen verzierten Hut, ihre weißen Handschuhe und ihr grünes Kleid, das glänzte wie Meerwasser im Sonnenschein. Ihr hübsches ovales Gesicht glühte förmlich; sie saß neben Grandmomma Sarah und die beiden verstanden sich wie Blumen im gleichen Bouquet. Im Moment zupfte Grandmomma Sarah allerdings an Granddaddy Jaybirds Anzugjacke – er trug stets denselben Anzug, im Winter wie im Sommer, zu Ostern oder bei Beerdigungen –, damit er sich hinsetzte und aufhörte, den Verkehr zu lenken. Er wies die Menschen auf den Bänken an, enger zusammenzurücken und brüllte dann: »Hier ist noch Platz für zwei!«
»Setz dich hin, Jay! Setz dich!« Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn in seinen knochigen Hintern zu zwicken, woraufhin er ihr einen finsteren Blick zuwarf und auf der Bank Platz nahm.
Meine Eltern und ich drückten uns die Bank entlang. »Schön, dich zu sehen, Tom«, sagte Grand Austin zu Dad und sie schüttelten sich die Hände. »Das heißt, wenn ich dich sehen könnte .« Seine Brille war beschlagen. Er nahm sie ab und rieb sie mit einem Taschentuch trocken. »Ich würde sagen, das ist der größte Andrang in den letzten sechs Jah-«
»Voll wie ein Bordell am Zahltag, was, Tom?«, unterbrach Granddaddy Jaybird ihn, doch Grandmomma Sarah stieß ihm so hart ihren Ellbogen in die Rippen, dass seine falschen Zähne klickten.
»Es wär schon schön, wenn du mich wenigstens einmal einen Satz zu Ende sprechen lassen würdest«, sagte Grand Austin mit errötenden Wangen zu ihm. »Seit ich hier sitze, schaffe ich es nicht, auch nur drei Worte z-«
»Gut siehst du aus, Junge!«, redete Granddaddy Jaybird weiter und reckte sich an Grand Austin vorbei, um mir einen Klaps aufs Knie zu geben. »Rebecca, du gibst dem Jungen doch genügend Fleisch zu essen, oder? Du weißt doch, dass ein Junge im Wachstum Fleisch für seine Muskeln braucht!«
»Hörst du nicht?«, fragte Grand Austin ihn. Die Röte in seinen Wangen pulsierte förmlich.
»Hör ich was nicht?«, gab Granddaddy Jaybird zurück.
»Mach dein Hörgerät an, Jay«, sagte Grandmomma Sarah.
»Was?«
»Hörgerät!« , schrie sie, offenbar mit ihrer Geduld am Ende. »Mach es an!«
Es versprach ein denkwürdiges Osterfest zu werden.
Alle Leute begrüßten sich, und es kamen immer noch mehr nasse Menschen in die Kirche, während der Regen erneut aufs Dach zu prasseln begann. Granddaddy Jaybird mit seinem langen, ausgemergelten Gesicht und Haaren wie einer weißen Wurzelbürste wollte mit Dad über den Mord sprechen, aber Dad schüttelte den Kopf und ging nicht darauf ein. Grandmomma Sarah fragte mich, ob ich dieses Jahr Baseball spielen würde, und ich sagte ja. Sie hatte ein freundliches Gesicht mit dicken Wangen und blassblaue Augen in einem Nest aus Falten, aber ich wusste, dass Granddaddy Jaybirds Art sie oft vor Wut auf die Palme brachte.
Die Fenster waren wegen des Regens alle geschlossen und die Luft wurde immer schwüler. Die Fußbodenbretter waren nass, die Wände leckten und die Ventilatoren ächzten beim Drehen. Die Kirche roch nach hundert verschiedenen Parfüms, Rasierwassern und Haarwassern, sowie dem süßen Duft der Blumen, die Anzugstaschen und Hüte zierten. Die Mitglieder des Chors kamen in ihren lilafarbenen Gewändern herein. Schon bevor die erste Hymne zu Ende war, schwitzte ich in meinem Hemd. Wir erhoben uns, sangen eine Hymne und setzten uns wieder. Zwei äußerst beleibte Frauen – Mrs. Garrison und Mrs. Prathmore – gingen nach vorn, um über die Kollekte für die Armut leidenden Familien im Adams Valley zu reden. Dann standen wir auf, sangen noch eine Hymne und setzten uns wieder. Meine beiden Großväter hatten Stimmen wie Bullfrösche, die sich in einem Sumpfloch stritten.
Читать дальше