Reverend Richmond Lovoy, dick und rundgesichtig, stellte sich an die Kanzel und begann zu predigen, was für ein glorreicher Tag dies war, denn schließlich war Jesus von den Toten auferstanden und so weiter. Dem Reverend hing eine braune Haarsträhne wie ein Komma über sein linkes Auge. An den Schläfen war er ergraut, und jeden Sonntag rissen sich seine nach hinten gebürsteten Haare aus ihrem pomadisierten Halt los, um sich während seines Predigens und Gestikulierens wie eine braune Flut über sein Gesicht zu ergießen. Seine Frau hieß Esther und ihre drei Kinder Matthew, Luke und Joni.
Während Reverend Lovoy im Wettkampf mit dem himmlischen Donner predigte, erkannte ich, wer direkt vor mir saß.
Die Dämonin.
Sie konnte Gedanken lesen. Das war eine von allen akzeptierte Tatsache. Und in dem Moment, in dem ich bemerkte, dass sie vor mir saß, drehte sie den Kopf und starrte mich aus diesen schwarzen Augen an, die selbst eine Hexe mitternachts erstarren lassen konnten. Die Dämonin hieß Brenda Sutley. Sie war zehn Jahre alt, hatte dünne rote Haare und ein blasses Gesicht voller brauner Sommersprossen. Ihre Augenbrauen waren dick wie Raupen und ihre ungleichmäßigen Gesichtszüge sahen aus, als hätte jemand mit der flachen Seite einer Schaufel versucht, darauf ein Feuer auszuschlagen. Ihr rechtes Auge sah größer als das linke aus, ihre Nase war ein Schnabel mit zwei klaffenden Löchern und ihr dünnlippiger Mund schien von einer Seite ihrer Miene zur andern zu wandern. Sie konnte aber nichts dafür; ihre Mutter war ein Feuerhydrant mit roten Haaren und einem braunen Schnurrbart, und gegen ihren rotbärtigen Vater sah selbst ein Zaunpfosten muskulös aus. Bei so viel Rot in der Familie war es kein Wunder, dass Brenda Sutley gruselig war.
Die Dämonin hatte ihren Namen bekommen, weil sie in Kunst einmal ein Bild von ihrem Vater mit Hörnern und einem gespalteten Teufelsschwanz gemalt hatte. Zu Mrs. Dixon, der Kunstlehrerin, und ihren Klassenkameraden hatte sie gesagt, dass ihr Papa hinten in seinem Schrank einen großen Stapel Zeitschriften besaß, in denen Dämonenjungs ihre Schwänze in die Löcher von Dämonenmädchen steckten. Aber die Dämonin hatte nicht nur ihre Familiengeheimnisse gelüftet. Sie hatte einer toten Katze Pennys auf die Augen geklebt und sie am Mitbringtag zur Schule mitgebracht; und sie hatte in Kunst aus grüner und weißer Knete einen Friedhof gebastelt, auf dessen Grabsteinen die Namen und Todesdaten ihrer Mitschüler standen, woraufhin einige Kinder hysterisch wurden, als sie entdeckten, dass sie nicht mal sechzehn werden würden. Außerdem hatte sie eine beunruhigende Schwäche für Streiche mit zwischen Brotscheiben gepresster Hundekacke. Alle erzählten sich, dass sie hinter der Abflussrohrexplosion steckte, als letzten November sämtliche Mädchentoiletten in der Schule mit Papier verstopft waren.
Um es mit einem Wort zu sagen: Sie war unheimlich .
Und jetzt starrte mich ihre königliche Unheimlichkeit an.
Ein langsames Lächeln dehnte ihren schiefen Mund. Ich konnte nicht von ihren durchdringenden schwarzen Augen wegsehen und dachte: Sie hat mich . Das Problem mit Erwachsenen ist, dass sie in Gedanken immer völlig woanders sind, wenn man will, dass sie etwas sehen und eingreifen; und wenn man will, dass sie sich um andere Dinge kümmern, sitzen sie einem auf der Pelle. Ich wollte, dass Dad oder Mom oder sonst wer Brenda Sutley sagte, sie sollte sich wieder umdrehen und Reverend Lovoy zuhören, aber natürlich war es, als hätte die Dämonin sich unsichtbar gemacht. Niemand außer mir, ihrem momentanen Opfer, konnte sie sehen.
Ihre rechte Hand schwebte empor wie der Kopf einer kleinen weißen Schlange mit schmutzigen Fängen. Langsam, mit bösartiger Eleganz, streckte sie den Zeigefinger aus und richtete ihn auf eins ihrer klaffenden Nasenlöcher. Der Finger bohrte sich tief ins Nasenloch, und ich dachte, dass sie ihn immer weiter hochschieben würde, bis ihr gesamter Finger verschwunden war. Doch dann wurde der Zeigefinger wieder herausgezogen. An der Spitze klebte eine grün glänzende Masse von der Größe eines Maiskorns.
Ihre schwarzen Augen blinzelten nicht. Langsam öffnete sich ihr Mund.
Nein, bettelte ich sie telepathisch an. Nein, bitte tu’s nicht!
Die Dämonin schob ihren grünbestückten Finger auf ihre feuchte rosafarbene Zunge zu.
Ich konnte nicht anders, als hinzustarren, während sich mein Magen zu einem harten kleinen Knoten zusammenzog.
Grün auf Rosa. Der Fingernagel dreckig. Ein klebriger, durchhängender Faden.
Die Dämonin leckte sich den Finger an der Stelle ab, an der das grüne Ding gewesen war. Ich musste wohl wild auf der Bank hin und her gerutscht sein, denn Dad packte mein Knie und flüsterte: »Hör zu!« Aber natürlich hatte er weder die unsichtbare Dämonin noch ihren grausamen Folterakt gesehen. Die Dämonin lächelte mich mit befriedigten schwarzen Augen an. Dann drehte sie den Kopf und die Tortur war vorbei. Ihre Mutter strich ihr mit behaarten Fingern über die feurigen Haare, als wäre sie das süßeste kleine Mädchen, dem Gott je seinen Atem geschenkt hatte.
Reverend Lovoy bat die Gemeinde zum Gebet. Ich senkte den Kopf und kniff die Augen zu.
Und etwa fünf Sekunden in das Gebet hinein prallte etwas hart an meinem Hinterkopf ab.
Ich drehte mich um.
Horror packte mich: Direkt hinter mir saßen Gotha und Gordo Branlin mit ihren zinnfarbenen Augen, der gleiche Farbton wie geschärfte Messerklingen. Ihre Eltern waren links und rechts von ihnen tief im Gebet versunken. Ich nahm an, dass sie um Erlösung von ihren Gören beteten. Beide Branlin-Jungs trugen dunkelblaue Anzüge und weiße Hemden. Auch ihre Krawatten sahen ähnlich aus, nur dass Gothas weiß mit schwarzen Streifen war und Gordos rote Streifen hatte. Gotha, der ein Jahr älter als sein Bruder war, hatte die weißer gebleichten Haare; Gordos waren etwas gelblicher. Ihre Gesichter waren wie scheußliche Schnitzereien in braunem Stein, und selbst in ihren Knochen – dem vorspringenden Unterkiefer, Wangenknochen, die fast durch die Haut stießen, eine Stirn wie eine Granitplatte – lag die Andeutung von geballter Wut. In den kurzen Sekunden, die ich es wagte, in diese verschlagenen Visagen zu gucken, stieß mir Gordo seinen ausgestreckten Stinkefinger entgegen. Gotha schob die nächste Erbse in seinen Strohhalm.
»Cory, dreh dich wieder um!«, flüsterte meine Mutter und zupfte an meinem Ärmel. »Mach die Augen zu und bete!«
Das tat ich. Die zweite Erbse prallte an meinem Kopf ab. Die Dinger stachen wie Wespen. Den ganzen Rest des Gebets hindurch konnte ich die Branlins hinter mir wie böse Trolle wispern und kichern hören. Mein Kopf war ihre Zielscheibe des Tages.
Als das Gebet zu Ende war, sangen wir noch eine Hymne. Ankündigungen wurden gemacht und Besucher willkommen geheißen. Die Kollekte wurde gesammelt. Ich steckte einen Dollar, den Dad mit extra dafür gegeben hatte, in das Säckchen. Der Chor sang zum Klavier- und Orgelspiel der Glass-Schwestern. Hinter mir kicherten die Branlins. Dann erhob sich Reverend Lovoy erneut, um seine Osterpredigt zu halten – und in dem Moment landete die Wespe auf meiner Hand.
Ich hatte meine Hand auf mein Knie gelegt. Ich bewegte sie nicht, obwohl die Angst mir wie ein Blitzschlag über den Rücken schoss. Die Wespe zwängte sich zwischen meinen Zeigefinger und Mittelfinger und blieb mit zuckendem blauschwarzem Stachel sitzen.
Lasst mich ein paar Dinge zum Thema Wespen sagen.
Sie sind anders als Bienen. Bienen sind dick und fröhlich und surren von Blume zu Blume, ohne ein Interesse an Menschenfleisch zu haben. Schwebfliegen sind neugierig und temperamentvoll, aber normalerweise so vorhersehbar und vermeidbar wie Bienen. Eine Wespe dagegen, besonders die dunklen, schlanken Wespen, die wie ein Dolch mit Kopf aussehen, ist dazu geboren ihren Stachel in Haut zu versenken und einen Schrei zu entlocken wie ein Weinconnaisseur, der einen guten Jahrgang entkorkt. Wenn man mit dem Kopf gegen ein Wespennest stößt, kann man im Nu das Gefühl haben, mit Schrotkugeln beschossen zu werden, habe ich mir sagen lassen. Ich habe das Gesicht eines Jungen gesehen, der eines Sommers in die Lippen und Augenlider gestochen wurde, als er ein altes verlassenes Haus auskundschaftete – grausam pralle Schwellungen, die ich nicht mal den Branlins wünsche. Wespen sind jenseits von Vernunft und Verstand. Sie stechen ohne Veranlassung oder Sinn. Sie würden dich bis ins Knochenmark stechen, wenn sie ihren Stachel so tief in dir versenken könnten. Sie sind voller Wut, genau wie die Branlins. Wenn der Teufel ein Haustier hat, dann ist es keine schwarze Katze, kein Affe und keine lederhäutige Echse: Es ist schon immer eine Wespe gewesen und wird immer eine sein.
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