Jemand reichte ihr eine Glocke. Sie stand und starrte auf den gemächlich fließenden braunen Fluss hinunter. Langsam begann sie die Glocke hin und her zu schwenken.
Ich wusste, was sie tat. Meine Mom wusste es auch. Alle, die zuschauten, wussten es.
Die Lady rief das Flussmonster aus seiner schlammigen Villa heraus.
Ich hatte das Monster namens Old Moses nie gesehen. Als ich neun Jahre alt war, meinte ich, in einer Nacht nach einem Sturzregen, als die Luft so dicht wie Wasser war, Old Moses rufen gehört zu haben. Es war ein dunkles Grollen gewesen, wie die tiefste Note einer Kirchenorgel, so tief, dass man sie in seinem Knochenmark spürt, bevor die Ohren sie auffangen. Das Geräusch schraubte sich zu einem heiseren Brüllen hoch, das die Hunde der Stadt durchdrehen ließ. Und dann war es weg. Es hatte kaum fünf, sechs Sekunden lang angedauert. Am nächsten Tag gab es in der Schule kein anderes Gesprächsthema als dieses Geräusch. Ben und Davy Ray meinten, dass es das Pfeifen eines Zuges gewesen war. Johnny verriet seine Gedanken dazu nicht. Meine Eltern sagten, dass es der Zug auf der Durchfahrt gewesen sein musste, aber später fanden wir heraus, dass der Regen über zwanzig Meilen von Zephyr entfernt ein Schienenstück weggespült hatte und dass der Frachtzug nach Birmingham in jener Nacht gar nicht gefahren war.
So etwas wirft Fragen auf.
Einmal wurden unter der Gargoylebrücke die Überreste einer Kuh angetrieben. Ohne Kopf und Eingeweide, erfuhren mein Vater und ich von Mr. Dollar, als wir zum Haareschneiden gingen. Zwei Männer, die kurz hinter Zephyr vom Ufer Netze nach Flusskrebsen auswarfen, verbreiteten ein Gerücht über eine menschliche Leiche, die an ihnen vorbeigetrieben war; mit sperrangelweitem Brustkorb wie eine offene Sardinenbüchse und abgerissenen Armen und Beinen. Aber es wurde stromabwärts nie eine Leiche gefunden. In einer Oktobernacht rammte irgendetwas eins der Fundamente, auf denen die Brücke stand, und hinterließ Risse in den Stützpfeilern, die mit Zement gefüllt werden mussten. »Ein großer Baumstamm« lautete Bürgermeister Swopes offizielle Erklärung im Adams Valley Journal .
Die Lady läutete ihre Glocke, bewegte ihren Arm wie ein Metronom. Sie begann zu singen, überraschend klar und laut. Der Gesang bestand nur aus afrikanischen Worten, die ich ungefähr so gut verstand wie Nuklearphysik. Ab und zu hielt sie inne, legte den Kopf zur Seite, als hielte sie nach etwas Ausschau oder horchte, und dann fing sie wieder an die Glocke zu schwingen. Nicht ein einziges Mal sang sie den Namen »Old Moses«. Sie wiederholte ständig »Damballah, Damballah, Damballah«, und dann schraubte ihre Stimme sich wieder in ein afrikanisches Lied empor.
Schließlich hörte sie auf die Glocke zu läuten und ließ sie sinken. Sie nickte, woraufhin der Mondmann die Glocke entgegennahm. Die Lady sah mit starren Augen zum Fluss hinunter, aber was sie dort sah, wusste ich nicht. Dann trat sie einen Schritt zurück und die drei Männer mit den Jutesäcken stellten sich an die Brückenbrüstung. Aus den Säcken holten sie in Papier und Klebeband eingewickelte Päckchen heraus. Das eine oder andere Papier war blutdurchtränkt, und man konnte den Kupfergeruch von frischem Fleisch riechen. Dann fingen sie an, das blutige Mahl auszuwickeln und warfen die Steaks, Bratenstücke und Rippchen in das wirbelnde braune Wasser. Ein ganzes gerupftes Huhn fiel in den Fluss, sowie Hühnerinnereien, die aus einem Plastikbecher geschüttet wurden. Kälberhirn rutschte aus einer grünen Tupperware-Schüssel und nasse rote Rindernieren und Leber aus einem der feuchten Päckchen. Ein Glas mit eingelegten Schweinefüßen wurde aufgedreht und der Inhalt platschte ins Wasser. Das letzte Stück war ein Rinderherz, größer als die Faust eines Boxers. Es klatschte in den Fluss wie ein roter Stein. Dann machte die Lady wieder einen Schritt nach vorn, wobei sie aufpasste, nicht auf dem Blut auszurutschen, welches auf den Asphalt getropft war.
Mir kam der Gedanke, dass gerade eine ganze Menge Sonntagsdinner ins Wasser gefallen waren.
»Damballah, Damballah, Damballah!«, sang die Lady noch einmal. Vier oder fünf Minuten lang beobachtete sie bewegungslos, wie der Fluss unter der Brücke hindurchströmte. Dann gab sie einen langen Seufzer von sich, und als sie sich zu ihrem Strass-Pontiac umdrehte, erhaschte ich hinter ihrem Schleier einen Blick auf ihr Gesicht. Sie runzelte die Stirn; was sie auch gesehen oder nicht gesehen hatte, stimmte sie nicht froh. Sie stieg ins Auto, der Mondmann folgte ihr, der Fahrer machte die Tür hinter ihnen zu und setzte sich ans Steuer. Der Pontiac fuhr bis zu einer Stelle, an der er wenden konnte, und setzte sich dann in Richtung Bruton in Bewegung. Die Prozession marschierte die gleiche Strecke zurück, die sie gekommen war. Normalerweise wurde nun viel gelacht und geredet und die Mitglieder des Umzugs blieben stehen, um sich unterwegs mit den weißen Zuschauern zu unterhalten. An diesem Karfreitag aber hatte sich die ernste Stimmung der Lady verbreitet und niemandem schien nach Lachen zumute zu sein.
Ich wusste ganz genau, um was es bei dem Ritual ging. Jeder im Ort wusste es. Die Lady warf Old Moses seinen alljährlichen Festschmaus zum Fraß vor. Wann das begonnen hatte, wusste ich nicht; es war schon lange ein Brauch gewesen, bevor ich überhaupt zur Welt kam. Vielleicht findet ihr es heidnisch oder Teufelswerk wie Reverend Blessett von der Freedom Baptist Church, und denkt, dass es der Bürgermeister und Stadtrat hätten verbieten sollen, aber genügend Weiße glaubten an Old Moses, um sich gegen die Beschwerden des Predigers durchzusetzen. Es war nicht viel anders als eine Hasenpfote als Glücksbringer anzusehen oder sich Salz über die Schulter zu werfen, wenn man welches verschüttet hatte. Es war einfach etwas, das zum Leben gehörte und das man zur Sicherheit machte, nur für den Fall, dass Gottes Wege unerklärlicher waren, als wir Christen begreifen konnten.
Am Tag danach regnete es noch stärker und Donnerwolken schoben sich über Zephyr. Die Osterparade der Merchants Street wurde zum großen Bestürzen des Kunstvereins und der Handelskammer abgesagt. Mr. Vandercamp Junior, dessen Familie der Futtermittel- und Baumarkt gehörte, verkleidete sich schon seit sechs Jahren als Osterhase und fuhr steht im letzten Auto der Parade mit. Er hatte diese Rolle von Mr. Vandercamp Senior geerbt, der zum Herumhüpfen zu alt geworden war. An diesem Ostern ertränkte der Regen jedoch jegliche Aussichten, einige der von diversen Ladenbesitzern und ihren Familien aus den Autos geworfenen Schokoladeneiern zu ergattern. Die Damen des Sunshine Clubs konnten weder ihre Osterkleider, Gatten noch Kinder zur Schau stellen, Zephyrs Kriegsveteranen konnten nicht hinter der Flagge hermarschieren und die Confederate Sweethearts – Mädchen, die die Adams Valley Highschool besuchten – konnten weder ihre Reifröcke anziehen noch ihre Sonnenschirme drehen.
Ostern dämmerte grau in grau heran. Mein Dad und ich mochten es beide nicht, wenn wir uns mit gestärkten Hemden, Anzügen und polierten Schuhen fein anziehen sollten. Mom hatte auf unser Grummeln stets die gleiche Antwort. »Es ist ja nur der eine Tag«, lautete ihr Spruch, als fühlten sich der steife Kragen und Krawattenknoten dadurch bequemer an. Ostern war ein Tag, an dem die ganze Familie zusammenkam. Mom rief Grand Austin und Nana Alice an, und Dad danach Granddaddy Jaybird und Grandmomma Sarah. Wie immer zu Ostern würden wir uns in Zephyrs First Methodist Church treffen, um unseren Reverend über der leeren Gruft predigen zu hören.
Als wir endlich einen Parkplatz für unseren Pick-up gefunden hatten, füllte sich die weiße Kirche in der Cedarvine Street bereits. Wir gingen durch den feuchten Dunst auf das Licht zu, das aus den Buntglasfenstern der Kirche strömte. Die Schuhcreme auf unserer feinen Fußbekleidung wurde von der Nässe aufgesogen. Unter dem Dachüberhang an der Eingangstür legten die Kirchgänger ihre Regenmäntel und Schirme ab. Es war eine alte Kirche, 1939 erbaut, deren Kalkanstrich sich löste und graue Flecken zum Vorschein brachte. Normalerweise wurde die Kirche für Ostern frisch geweißelt, aber in diesem Jahr hatte der Regen den Pinseln wie dem Rasenmäher das Handwerk gelegt. Vor dem Gebäude rankte das Unkraut.
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