Dann war da aber noch der Mann, den sie zuletzt entführt hatten – Gott sollte gedankt werden für ihn. Sie war untröstlich, weil ihr Freund Ricky hatte leiden und schließlich sterben müssen, doch zu erleben, dass Ben und Willow mehrere Gänge zurückschalten mussten, trug viel dazu bei, seinen Einfluss auf die Kids endlich aufzuheben. Obwohl Ben dies als Vorwand dafür benutzte, sie alle wie Geiseln zu halten, war Rachael überzeugt davon, dass die Mitglieder sich nun geschlossen gegen ihn auflehnen würden.
Sie sprach zuerst: »Ich entscheide mich für Zamfir!«
Hoffentlich taten es ihr die anderen gleich, doch anscheinend sollte es nicht so sein. Ben ergriff nämlich nun die Gelegenheit, um sie und den Rest des Zirkels einzuschüchtern.
»Dann bist du ab sofort mein Todfeind.« Er zog sein Messer und drehte sich lächelnd zu den Gefangenen um. »Ihr alle, entscheidet euch. Steht auf und steht zu eurem gewählten Führer.« Er trat zurück, um ihnen Platz zu machen.
Die Kids erhoben sich mit steifen Gliedern und humpelten zu Ben hinüber. Alle bedachten Zamfir und Rachael mit reuigen Blicken. Viele von ihnen jammerten, und die meisten trauten sich nur zu einem tonlosen »Tut mir leid.«
Das war's. Wir sind geliefert, dachte die junge Frau.
»Ihr zwei seid hier offenbar unerwünscht.« Ben fing nun an, Befehle zu bellen, und wandte sich den beiden Ausgestoßenen zu, die komplett fassungslos waren. »Verschwindet sofort! Geht weg! Sonst überlege ich es mir doch noch anders.«
Er wollte einfach nicht auf nett machen. Dass sich seine Gefangenen Hoffnung machten, entging ihm genauso wenig wir ihre Bereitschaft, gegen ihn aufbegehren zu wollen, also begnügte er sich damit, das Paar zu vertreiben, statt einen Doppelmord zu begehen, solange sie von allen umringt waren. Sie zu einem anderen Zeitpunkt zu beseitigen genügte ihm voll und ganz.
Mit vorgehaltener Schusswaffe befahl Ben seinem Gefolge, sich wieder auf die Gewänder zu legen. Zamfir lief voraus und stolperte fast über seine eigenen Füße, weil er es so eilig hatte. Das konnte ihm Rachael nicht verübeln, denn dass er überhaupt mit ihr zurückgekehrt war, erstaunte sie immer noch. Ihn dazu zu bewegen hatte einige Überzeugungsarbeit und der Drohung bedurft, sie werde ihn verlassen. Jetzt fühlte sie sich allerdings schlecht, weil sie die anderen in Stich lassen musste. Sie raffte ihr Gewand und machte langsame und bemessene Schritte, womit sie aber trotzdem zügiger und schneller vorankam, als Zamfir in seiner Panik. Sie hätte gar nicht sagen können, wo genau sie sich in der weitläufigen Wildnis von Big Sur befanden, sorgte sich aber auch nicht wirklich darum. Später würde sie noch genug Zeit haben, es herauszufinden, während sie jetzt erst einmal froh darüber war, am Leben zu sein, und Ben deshalb schleunigst entkommen wollte. Als sie zurückschaute, sah sie ihn zwischen den Bäumen auf der Lichtung hin und her schreiten und wünschte sich, ihn einfach umbringen zu können.
Sie marschierten fast eine Stunde lang, so schnell sie konnten, allerdings nicht ohne sich gelegentlich umzudrehen und sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurden. Schließlich blieb Rachael stehen und streifte ihre Robe ab. Darunter trug sie Jeans und ein T-Shirt, sodass sie mit einem Mal wie ein typischer Twen aussah. Das Gewand hängte sie sich einfach über eine Schulter. Zamfir tat nun das Gleiche und entledigte sich außerdem noch seines Oberteils. Er hatte ein weißes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose an. Das Medaillon zog er ebenfalls aus.
»Bloß weg mit dem Mist«, sagte er zu Rachael.
Sie kicherte. »Hi, Everet.« Dann ließ sie den dicken, schwarzen Stoff ebenfalls fallen. Gleich darauf fasste sie sich an den Rücken und holte die Pistole hervor. Diese sah aus wie eine Beretta, aber nicht dass sie oder er das gewusst hätten. Sie richtete sie auf Everet und drückte mehrmals ab.
Klick, klick, klack. Kein Schuss löste sich, nur ein paar Funken sprühten aus dem Lauf.
»Funktioniert immer noch nicht.« Sie lächelte, als sie den Scherzartikel – ein Feuerzeug – zur Seite warf.
»Wäre aber hilfreich gewesen«, erwiderte Everet, als er auf den Boden schaute. Er ärgerte sich, weil das Feuerzeug, das er ausgesucht hatte, nichts taugte.
»Na ja, eigentlich hat es doch funktioniert«, fuhr Rachael fort. »Es hat Ben davon abgehalten, uns zu töten. Jetzt wo ich es mir genauer überlege …« Sie bückte sich und hob die Pistolenattrappe wieder auf.
Everet, der mit Nachnamen Lewis hieß, lächelte mit einem nach unten gerichteten Blick. »Wir müssen einfach in Bewegung bleiben. Ich dachte, vielleicht finden wir irgendwann ein Haus, bevor die Sonne untergeht.«
Rachael sperrte den Mund weit auf. »Sollten wir nicht lieber umkehren und den anderen helfen?« Obwohl sie den alten Mann gut kannte, stieß sie sein Wunsch, sich einfach so aus der Affäre zu ziehen, vor den Kopf.
»Was könnten wir denn schon für sie tun? Tagelang haben wir im Wald gewartet, und Ben zur Rede zu stellen war unser ach so toller Plan. Wir hätten dabei draufgehen können, ganz ohne Weiteres.«
Rachael starrte auf seine kahle Schädelplatte. Dies nahm ihrem Gesichtsausdruck sofort die Strenge, denn ihr fiel wieder ein, wie nachgiebig er sein konnte. »Wir überlegen uns etwas, aber du hast recht: Heute Nacht müssen wir uns wirklich erst einmal ausruhen. Ich habe schon seit Tagen nicht mehr anständig geschlafen.«
»Oder gegessen«, fügte er hinzu.
»Oder auf einer richtigen Toilette gesessen.«
»Oder geduscht.«
Beide spürten, dass sich ihre Stimmung verbesserte, je weiter sie von Ben fortkamen und sich jedem anderen beliebigen Ort auf der Welt näherten.
»Oder gelacht.«
»Geschweige denn gelächelt.«
So spielten sie einander noch mehrere Augenblicke lang die Bälle zu, verstummten aber relativ bald wieder.
Der Hohepriester des Bösen, wie er sich genannt hatte, war jetzt ein Biedermann mittleren Alters. Ohne Verkleidung und Motivation verschwand Zamfir, und Everet trat wieder hervor.
Schon seltsam, dachte er. Anscheinend brachte niemand den Namen mit dem bekannten Panflötisten in Verbindung. Dieser ging ja auch kaum als Bösewicht durch, andererseits hängt das aber vielleicht auch davon ab, was man von diesem Instrument hält.
»Everet, sieh doch nur.« Rachael blieb stehen und hielt sich eine Hand an die Stirn, um ihre Augen vor der untergehenden Sonne zu schützen, die bereits ganz niedrig am Himmel stand. »Was hältst du davon?«
An der Spitze eines steilen Hangs über ihnen stand ein Haus. Es sah nach etwas Gehobenerem aus und war nicht eingezäunt. Rachael war sich sicher, dass sie nun einen Platz gefunden hatten, wo sie vieles, was sie brauchten, und noch dazu einen Weg zurück in die Zivilisation finden würden. Everet strahlte ebenfalls. Er machte sich sofort an den Aufstieg. Es war ein ebenerdiges Gebäude, nahm aber eine große Fläche ein. Die Aussicht war gewiss atemberaubend, egal durch welches Fenster. Es verfügte sogar über Solarzellen auf dem Dach und einen großen Gastank, der hinter einigen Hecken versteckt an der Einfahrt stand. Solche Immobilien konnten sich nur sehr wohlhabende Menschen leisten, womit sie automatisch zu Selbstversorgern wurden. Anders ging es auch gar nicht, denn zumindest dieses Grundstück lag durchaus weitab vom Schlag, also galt es, sich aus eigenen Stücken um fließendes Wasser und Elektrizität kümmern zu können.
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